Suna
Mathematik, das Zeichnen und die gelegentlichen Besuche im Haus seines Geographielehrers, der eine recht hübsche Tochter namens Claudia hatte.
Einmal hatte Johannes einen Spaziergang hoch hinauf auf die Burg mit ihr gewagt, ein anderes Mal lud er sie ein, ihn auf einem Streifzug durch den Wald an den nahe gelegenen Albtrauf zu begleiten. Mit ihr besprach er seine Studienpläne und traf auf eine verwandte Seele. Sie verstand seine Sehnsucht nach Ruhe und Übersichtlichkeit. Claudia brachte ihn auf die Idee, Meteorologe zu werden, als sie von einem ehemaligenStudienkollegen ihres Vaters erzählte, der während der Sommermonate ganz allein in einer Wetterwarte in den Alpen lebte. Johannes war Feuer und Flamme.
Es kam zu einem ersten vorsichtigen Kuss und mehreren Kaffeerunden im Haus der zukünftigen Schwieger eltern. Insbesondere Claudias Vater war einer Verbindung, »nach Abschluss des Studiums natürlich«, nicht abgeneigt, sah er doch die leuchtenden Augen seiner Tochter. Die Mutter hingegen zeigte sich kühl gegenüber dem stillen Jungen.
Getragen von Claudias Unterstützung, lehnte sich Johannes gegen die Pläne auf, die zu Hause über seinen Kopf hinweg geschmiedet worden waren. War seine Methode bis dahin gewesen, entweder zuzustimmen oder krank zu werden, erlebte Irma ihren Sohn von einer ganz ungekannten Seite.
»Was wird nun aus dir?«, fragte Thea den Abiturienten eines Tages beim Abendessen.
»Er studiert natürlich Architektur«, sagte Irma. »Da kann er sein wunderbares Zeichentalent nutzen.« (Sie hatte nämlich schon alles so herrlich für ihn geplant!)
Johannes holte tief Luft. Er legte sein angebissenes Käsebrot auf den Teller zurück, schob die Radieschenreste zusammen und nahm einen Schluck vom zimmerwarmen Bier. Gekühlt vertrug er es nicht. Er sah von seiner Mutter zu Thea und wieder zurück zu seiner Mutter. Dann warf er einen raschen Blick in Richtung Omama, die auf ihrem Sofa vor sich hin schnarchte.
»Mutter«, sagte er, und Irma zuckte ein klein wenig zusammen. »Architekten planen Häuser. In Häusern wohnen für gewöhnlich Menschen!«
»Besser als Ratten«, lachte Thea, aber auch sie war erstaunt über die dunkle und volle Stimme, den sicheren Ton.
»Thea, mir ist das ernst. Menschen sprechen. Unablässig. Ich möchte nicht mit Menschen über ihre Häuser sprechen. Ich möchte nicht, dass Menschen in Häusern, die ich mir ausgedacht habe, schlafen werden, während ich geplant habe, wo sie das tun. Ich möchte nicht wissen, wo sie zur Toilette gehen. Ich will nicht wissen, wo sie ihre Abendessen vorbereiten und für wen. Ich will keine fremden Kinderzimmer planen. Ich will ja nicht einmal selbst Kinder! Ich will mich mit niemandem über die Lage einer Steckdose verständigen müssen, ich möchte mich am liebsten mit gar keinem Mitmenschen besprechen. Ich möchte, wenn es dir recht ist, am liebsten überhaupt niemanden mehr sehen. Du wirst also hinnehmen müssen, dass ich über meine Berufswahl selber entscheiden werde.«
Es war nicht sicher, ob es die Länge seiner Rede war oder der Inhalt oder die Tatsache, dass er überhaupt eine so feste Überzeugung hatte, die dazu führte, dass Irma ihre langgehegten Pläne in Bezug auf ihren einzigen Sohn, für den Moment wenigstens, fallenließ. Nein, sie ließ sie nicht direkt fallen, sie änderte sie nur rasch.
»Theologie wäre noch eine Option, oder nicht, Junge?«, sagte sie, als ob nichts gewesen wäre.
In die Kirche ging er trotz seiner Weigerung, Pfarrer zu werden, regelmäßig und, wie es aussah, sogar mit einem gewissen Sinn für die tiefere Auslegung der Schrift, einem soliden theologischen Grundverständnis und einer Haltung gegenüber den christlichen Werten, die Irma zufrieden sein ließ. Vielleicht war ihr Johannes einfach ein Spätberufener, so wie sein Vater. Es würde nicht schaden, ein mütterliches Auge auf ihn gerichtet zu halten.
Johannes entschied sich, sein Studium in Mainz zu beginnen. Wie die meisten seiner Kommilitonen wohnte er zur Untermiete bei einer älteren Witwe. Während die anderen jedoch über die strengen Regeln stöhnten, die Damenbesuch verbaten und meistens auch keine abendlichen Studierrunden erlaubten, war Johannes froh darüber, sich auf so elegante Weise legitimiert seiner Eigenbrötlerei widmen zu können.
Sein Studium machte ihm Freude, er kam zügig voran. Was ihm aber noch mehr Freude, ja beinahe Entzücken bereitete, war ein Seminar in Kartographie. Hier endlich durfte er zeigen,
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