Suna
so dass sich der Briefbogen vollsog mit der blauen Farbe.
Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, stand ihre Mutter an ihrem Bett und hielt das Telegramm mit der Todesnachricht in den zitternden Händen.
Albrecht hinterließ ihr eine kleine Summe, und Theas Apotheke warf schon während des Krieges genug ab für den kleinen Haushalt.
Allerdings war auch Theas fachliche Expertise gefragt, denn Irma kam über den Verlust ihres Mannes nie endgültig hinweg. Auch nicht, als sie begann sich klarzumachen, dass sie nur eine von vielen Frauen war, die nach dem Krieg allein und ohne Vater für ihre Kinder sein mussten. In Wahrheit gab es lange dunkle Stunden in Irmas Leben, die nicht leicht zu ertragen waren, auch wenn sie versuchte, sie zu verbergen, insbesondere vor ihrem Sohn.
Wenn sie bei Kräften war, nutzte Irma jedoch ihre Zeit und ihr Vermögen für ausgedehnte Reisen mit Johannes.
Nach Skandinavien fuhr sie, häufig nach Schweden. Nach Südfrankreich nur einmal und dann doch lieber in den Norden des Landes, an den Atlantik.
Die südlichen Länder wurden ausgespart. Es sei zu heiß dort und zu leichtlebig, ja, auch wenn man die griechische Kultur schätze, und Kleinasien im Ganzen, aber dort gab es den Islam. Und um Griechenland zu erreichen, hätte man die tiefe Abneigung gegen den Papst bezwingen müssen.
»Unbekleidete Fräuleins an den wunderbaren Stränden der Adria«, sagte Irma oft mit bedeutungsvollem Unterton. »Nur Katholiken können so etwas dulden.«
Thea schüttelte den Kopf über die freiwillige Beschränkung, die ihre Schwester sich auferlegte. Sie wäre augenblicklich zu den Wirkungsstätten ihrer verehrten Philosophen gereist! Sie hätte die Türkei und ihre archäologischen Reichtümer sofort studiert, ob man nun von Minaretten herunter betete oder nicht. »Man weiß ohnehin nicht, ob unser Gott und Allah am Ende nicht ein und derselbe sind«, sagte sie und schockierte Irma damit zutiefst. Aber ohne Begleitung wagte selbst sie die weite Reise nicht.
Während sich die junge Republik also aufmachte nach Bella Italia, fror Johannes auf norwegischen Postschiffen und verpasste die teutonische Eroberung von Pizza und Pasta. Stattdessen zerlegte er mit den Fischern Lachs im Hafen von Bergen.
Nicht wenige warben um seine Mutter. Sie war eine schöne Frau, und das wusste sie, wobei sie ihr Aussehen, mehr oder weniger kokett, ihren konsequenten Einkäufen im örtlichen Reformhaus zuschrieb.
Immer war sie tadellos gekleidet, gern sportlich modern. Sie sang nach wie vor und unterhielt auf mancher Berghütte mit ihren Liedern. Aber niemand, der sein Interesse ihr gegenüber zu erkennen gab, kam über ein harmloses Gespräch hinaus.
»Ich habe Johannes«, sagte Irma im entscheidenden Augenblick sanft, und diesen Worten wagte keiner der Kan didaten etwas entgegenzusetzen.
An seinem zwölften Geburtstag rief Irma ihren Sohn zu sich in ihre Mangelstube.
Sie holte das Einzige hervor, das man ihr nach dem Krieg von Albrecht hatte schicken können, nämlich seinen Federkasten. Sie erklärte dem staunenden Jungen, wie man jedes einzelne Teil benutzt. Sie gab ihm ein Tintenfass, und er ging mit seinem Zeichenblock unter dem Arm hinaus auf den Hof, suchte sich ein stilles, ungestörtes Plätzchen und stellte den Kasten so auf, wie die Mutter ihm gesagt hatte. Dann begann er, Stockwerk für Stockwerk und Fenster für Fenster das Haus abzuzeichnen, in dem sie lebten. Jeden einzelnen Mauerstein schattierte er, bis es Abend war und kein Papier mehr übrig.
»Er hat das Talent seines Vaters geerbt«, sagte Thea zu ihrer Schwester und sah die Tränen in deren Augen glitzern.
Er war ein stiller Junge, ein Einzelgänger. Einer, der so ungern Kontakt mit anderen Kindern hatte, dass er schon donnerstags Kopfschmerzen bekam, weil er sich sorgte, das Wochenende könnte zu kurz sein.
»Mein lieber armer Junge bist du«, sagte Irma, wenn er bleich und mit schwarzgeränderten Augen nach Hause kam, erschöpft vom Sportunterricht, bei dem er nicht mit den anderen mithalten konnte, oder verstört von einem Jungenstreich, den er nicht verstand.
Er blieb die Schulzeit über für sich, zeichnete, ruhte oder half Thea aus. Mit seinem Sinn für Systematik und Logik hatte er die Zubereitung der einfacheren Arzneimittel sofort verstanden und war Thea eine willkommene Hilfe. Schließlich bestand er sein Abitur mit ansehnlichen Noten.
Die Schule hatte ihm insgesamt nur wenig Freude gemacht, eigentlich mochte er nur die
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