Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
zwar ungerade, aber nicht so schlimm wie andere ungerade Zahlen. Und sechsundfünfzig durch zwei ist achtundzwanzig: eine gute Zahl. Danach konnte ich schlafen. Ich hatte wohl schlechte Träume, aber richtig erinnern kann ich mich daran nicht.
Die Tage gingen vorüber, und ich musste immer wieder an das Ackerman’s Field denken. Als wäre ein Schatten auf mein Leben gefallen. Inzwischen zählte ich viele Dinge, und ich berührte sie auch, um mich zu vergewissern, wo ihr Platz in der Welt, der realen Welt, meiner Welt war. Und ich hatte begonnen, die Dinge zu ordnen. Immer gerade Zahlen und meistens in einem Kreis oder auf einer Diagonale.Weil Kreise und Diagonalen das Eindringen fremder Elemente verhindern.
Normalerweise zumindest. Wenn auch nie dauerhaft. Ein kleines Missgeschick genügt, und aus vierzehn wird dreizehn, aus acht sieben.
Anfang September besuchte mich meine jüngere Tochter und sprach mich darauf an, wie müde ich aussähe. Sie wollte wissen, ob ich zu viel arbeitete. Außerdem fiel ihr auf, dass alle Nippsachen im Wohnzimmer – das Zeug, das ihre Mutter nach der Scheidung nicht mitgenommen hatte – in »Kornkreisen«, wie sie das nannte, aufgestellt waren. »Wirst du auf deine alten Tage ein bisschen schrullig, Dad?«, sagte sie. Das war der Augenblick, in dem ich beschloss, wieder aufs Ackerman’s Field zu gehen, aber diesmal untertags. Wenn ich es bei Tageslicht sah, überlegte ich, und nichts weiter als ein paar nichtssagende Felsen auf einem ungemähten Heufeld vorfand, dann würde ich merken, wie idiotisch das alles war, und meine Besessenheit würde davonfliegen wie Löwenzahnsamen im Wind. Ich wünschte es mir von ganzem Herzen. Zählen, Berühren und Ordnen machen nämlich sehr viel Arbeit. Und es ist eine große Verantwortung.
Unterwegs schaute ich in dem Laden vorbei, wo ich meine Fotos entwickeln lasse, und stellte fest, dass die Bilder vom Ackerman’s Field nichts geworden waren. Alles war grau auf ihnen, wie von einer starken Strahlung. Das machte mich zwar nachdenklich, aber es brachte mich nicht von meinem Vorhaben ab. Ich borgte mir eine Digitalkamera von einem der Typen in dem Fotoladen – die, die später kaputtging – und fuhr in aller Eile raus nach Motton.Wollen Sie mal was Blödes hören? Ich kam mir vor wie jemand mit einem durch Giftefeu verursachten Hautausschlag, der in die Apotheke rennt, um sich eine Salbe gegen Juckreiz zu besorgen. Denn so war es für mich: wie ein starker Juckreiz. Durch Zählen, Berühren und Ordnen konnte ich daran kratzen, aber Kratzen bewirkt immer nur eine vorübergehende Linderung, und außerdem besteht die Gefahr, dass man das Übel dadurch noch weiter verbreitet. Ich wollte ein richtiges Heilmittel. Bloß dass die Fahrt zum Ackerman’s Field kein Heilmittel war. Aber das konnte ich damals natürlich noch nicht wissen.Wie heißt es so schön? Aus der Praxis lernen. Oder aus Versuch und Irrtum.
Es war ein herrlicher Tag, keine Wolke am Himmel. Die Blätter waren noch grün, doch in der Luft lag die brillante Klarheit des bevorstehenden Jahreszeitenwechsels. Meine Exfrau meinte immer, solche Tage im Frühherbst seien unsere Belohnung dafür, dass wir drei Monate lang hinter Touristen und Sommergästen Schlange stehen müssen, die ihr Bier mit der Kreditkarte bezahlen. Ich fühlte mich gut, das weiß ich noch. Ich war mir sicher, dass ich dieses verrückte Zeug, das mir im Kopf herumspukte, abschütteln konnte. Ich hörte eine Zusammenstellung der größten Hits von Queen und freute mich darüber, wie toll Freddie Mercury klang, wie rein . Ich sang sogar mit. In Harlow fuhr ich über den Androscoggin. Das Wasser zu beiden Seiten der alten Bale Road Bridge leuchtete so hell, dass es die Augen blendete. Ich lachte laut auf, als ich einen springenden Fisch bemerkte. So hatte ich seit dem Abend auf dem Ackerman’s Field nicht mehr gelacht. Es war ein so schönes Gefühl, dass ich es gleich nochmal machte.
Dann über den Boy Hill – den kennen Sie bestimmt auch – und vorbei am Friedhof Serenity Ridge. Da drinnen sind mir einige gute Fotos gelungen, allerdings habe ich nie eines davon in einen Kalender gesetzt. Keine fünf Minuten später war ich bei dem kleinen Feldweg angelangt. Ich bog hinein und trat sofort auf die Bremse. Gerade noch rechtzeitig.Wenn ich nicht so schnell geschaltet hätte, hätte ich mir das Kühlergitter aufgerissen. Über den Weg war eine Kette gespannt, an der ein neues Schild hing: BETRETEN STRENG
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