Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
dem Gras, das hoch aufragte. Niemand hatte es gemäht, obwohl das riesige Feld eine gute Heuernte ergeben hätte. Wie Atem stieg der Dunst aus dem dunkler werdenden Grün. Als wäre die Erde lebendig.
Ich glaube, ich wankte ein wenig. Was nicht an der Schönheit lag, obwohl es wirklich herrlich war, sondern daran, dass alles, was vor mir lag, so dünn wirkte, fast wie eine Halluzination. Und dann bemerkte ich diese verfluchten Felsen, die wie gesichtslose Statuen aus dem ungemähten Gras ragten.
Nach meinem ersten Eindruck waren es sieben. Der größte ungefähr eineinhalb Meter hoch, der kleinste einen knappen Meter, die anderen irgendwo dazwischen. Ich weiß noch, dass ich zum nächsten hinunterstieg, aber es ist wie die Erinnerung an einen Traum, der im ersten Morgenlicht schon zu zerfallen beginnt – das kennen Sie doch auch, oder? Natürlich, Träume gehören zu Ihrem Arbeitsalltag. Bloß dass das kein Traum war. Das Gras streifte wispernd über meine Hose, ich spürte, wie der Stoff vom Nebel feucht wurde und unterhalb der Knie an der Haut klebte. Ab und zu zupfte ein Sumachstrauch an meiner Objektivtasche, so dass sie härter als sonst gegen meinen Schenkel prallte.
Ich kam zu dem ersten Felsen und blieb stehen. Es war einer der größeren.Anfangs glaubte ich in der Oberfläche geschnitzte Gesichter zu erspähen – keine menschlichen Gesichter, sondern Fratzen von Tieren und Monstern -, doch als ich meine Position etwas veränderte, erkannte ich, dass mir das Licht des Sonnenuntergangs einen Streich gespielt hatte, ein Licht, das Schatten vertieft und sie aussehen lässt wie … nun, wie alles Mögliche. Nachdem ich eine Weile an meinem neuen Platz verharrt hatte, bemerkte ich jedoch abermals Gesichter. Einige davon wirkten menschlich, aber sie waren genauso grauenvoll. Eigentlich noch grauenvoller, eben weil sie von Menschen waren.Was menschlich ist, kennen und begreifen wir nämlich. Meinen wir zumindest. Und diese Gesichter schienen zu schreien oder zu lachen.Vielleicht beides gleichzeitig.
Ich glaubte, dass mir die Stille aufs Gemüt geschlagen hatte, die Einsamkeit, die unglaubliche Weite der Welt, die sich vor mir erstreckte. Die Zeit selbst hatte den Atem angehalten. Als müsste alles für immer so bleiben, die rote Sonne über dem Horizont, vierzig Minuten vor ihrem Untergang, und diese bleiche Klarheit in der Luft. In diesen Dingen vermutete ich den Grund dafür, dass ich Gesichter sah, wo nichts als verwitterter Stein war. Heute denke ich anders darüber, doch jetzt ist es zu spät.
Ich machte mehrere Aufnahmen. Fünf, glaube ich. Eine schlechte Zahl, aber das fand ich erst später heraus. Dann trat ich zurück, um alle sieben ins Bild zu bekommen. Als ich den Fotoapparat einstellte, fiel mir jedoch auf, dass es acht Felsen waren, die einen unregelmäßigen Ring bildeten. Bei genauem Hinsehen war zu erkennen, dass sie Teil einer darunterliegenden geologischen Formation waren, die sich entweder schon vor Äonen aus dem Boden geschoben hatte oder in jüngerer Zeit durch eine Überschwemmung freigelegt worden war (Letzteres war durchaus einleuchtend, da das Feld ziemlich abschüssig war). Andererseits wirkten sie auch planvoll, wie Steine in einem Druidenkreis. Aber sie wiesen keine Anzeichen von Meißelarbeiten auf. Nur die Elemente hatten ihre Spuren hinterlassen. Das weiß ich ganz genau, weil ich mich später bei Tageslicht vergewissert habe. Nichts als Splitter und Sprünge im Stein. Das war alles.
Ich machte weitere vier Bilder – insgesamt also neun, eine weitere schlimme Zahl, schlimmer noch als fünf -, und als ich die Kamera senkte und wieder mit bloßem Auge hinunterspähte, sah ich hämisch grinsende und feixende Fratzen. Die einen menschlich, die anderen tierisch. Und ich zählte sieben Steine.
Doch beim Blick durch den Sucher waren es wieder acht.
Mir wurde schwindlig, und Angst kroch in mir hoch. Ich wollte weg von dort, wollte bei Einbruch der Dunkelheit schon längst wieder auf der Route 117 sein und laute Rockmusik aus dem Radio hören. Aber ich konnte nicht einfach so abhauen. Etwas tief in mir – so tief wie der Instinkt, der uns atmen lässt – beharrte darauf. Ich ahnte, dass etwas Schreckliches passieren würde, und vielleicht nicht nur mit mir, wenn ich mich aus dem Staub machte. Wieder erfasste mich dieses Gefühl von Dünnheit und mit ihm die Gewissheit, dass die Welt an diesem Ort unendlich zerbrechlich war und schon ein einziger Mensch mit seinem Handeln
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