Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Letztlich zählt nur, dass N. tot ist. Die Ursache ist vergleichsweise unwichtig.
Sie lud mich zur Beerdigung ein. Ich war gerührt. Sogar zu Tränen gerührt. Ich sagte mein Kommen zu, falls die Familie nichts dagegen habe. Sie klang überrascht.Was solle ihre Familie dagegen haben?
»Immerhin war ich sein Therapeut und konnte ihm nicht helfen«, sagte ich.
»Aber Sie haben es versucht«, sagte sie. »Das ist das Entscheidende.« Wieder spürte ich ein Brennen in den Augen.War von ihrer Liebenswürdigkeit gerührt.
Bevor ich auflegte, fragte ich sie noch, ob er einen Abschiedsbrief hinterlassen habe. Ja, sagte sie. Nur drei Wörter: Ich bin todmüde.
Er hätte seinen Namen hinzusetzen sollen. Dann wären es vier gewesen.
7. JULI 2007
Sowohl in der Kirche als auch auf dem Friedhof gaben mir N.s Angehörige, und vor allem seine jüngere Tochter C., das Gefühl, willkommen zu sein. Es ist ein Wunder, wie eine Familie in solch schweren Zeiten ihren Kreis öffnen kann, selbst um einen völlig Fremden bei sich aufzunehmen. Es waren annähernd hundert Trauergäste da, viele davon Menschen, die er beruflich gekannt hatte. Ich weinte an seinem Grab. Ich finde das weder erstaunlich noch beschämend: Die Identifikation zwischen Therapeut und Patient kann sehr stark sein. C. nahm mich bei der Hand, umarmte mich und dankte mir dafür, dass ich versucht hatte, ihrem Vater zu helfen. Ich murmelte etwas von nicht der Rede wert und kam mir wie ein Betrüger vor, wie ein Versager.
Ein strahlender Sommertag.Was für ein Hohn.
Heute Abend habe ich mir die Bänder unserer Sitzungen angehört. Ich glaube, ich werde sie transkribieren. Aus N.s Geschichte lässt sich zumindest ein Artikel machen – ein kleiner Beitrag zur reichen Literatur über Zwangsstörungen – und vielleicht sogar etwas Größeres. Ein Buch.Aber ich zögere noch. Was mich zurückhält, ist der Gedanke, dass ich dieses Feld aufsuchen müsste, um N.s Fantasien mit der Realität zu vergleichen. Seine Welt mit meiner. Dass das Feld wirklich existiert, bezweifle ich keine Sekunde. Und die Steine? Ja, wahrscheinlich gibt es sie. Belanglose Felsen, die nur er durch seine zwanghaften Handlungen mit Bedeutung aufgeladen hat.
Wunderbarer roter Sonnenuntergang an diesem Abend.
17. JULI 2007
Ich habe mir den Tag freigenommen, um nach Motton rauszufahren. Ich habe schon länger mit diesem Gedanken gespielt, und letztlich sah ich keinen Grund, der dagegen sprach. Ich habe »herumgebummelt«, wie meine Mutter gesagt hätte. Wenn ich N.s Fall aufschreiben will, muss diese Bummelei aufhören. Keine Ausflüchte mehr. Da ich die von N. erwähnten Örtlichkeiten wie Bale Road Bridge (die Sheila und ich immer Fall Road Bridge nannten, warum weiß ich nicht mehr), Boy Hill und vor allem den Friedhof Serenity Ridge noch gut aus meiner Kindheit kannte, hielt ich es nicht für schwer, den besagten Feldweg zu finden. Und so kam es auch. Es konnte kein Zweifel bestehen, denn es war der einzige Feldweg, der mit einer Kette und einem Schild mit der Aufschrift BETRETEN STRENG UNTERSAGT abgesperrt war.
Ich stellte wie N. vor mir den Wagen auf dem Friedhofsparkplatz ab und ging zu Fuß bis zur Kette. Obwohl es ein strahlend heißer Sommertag war, hörte ich nur wenige Vögel, und selbst die nur in weiter Ferne. Auf der Route 117 war kein Verkehr, nur ein überladener Holzlaster donnerte mit über hundert Sachen vorbei, dass mir der heiße Luftzug und die öligen Abgase das Haar aus der Stirn wehten. Danach war ich ganz allein. Ich musste daran denken, wie ich als Kind zur Fall Road Bridge wanderte, meine kleine Zebco-Angelrute über der Schulter wie einen Karabiner. Damals kannte ich keine Angst, und auch heute gab es keinen Grund dazu.
Aber ich hatte Angst. Und ich möchte diese Furcht auch nicht als völlig irrational abtun. Es ist nie angenehm, die psychische Erkrankung eines Patienten zu ihren Wurzeln zurückzuverfolgen.
Ich stand also vor der Kette und fragte mich, ob ich das wirklich tun sollte. Wollte ich tatsächlich unbefugt in ein Grundstück eindringen, das mir nicht gehörte, und damit zugleich in die zwangsneurotische Fantasiewelt eines anderen? Eine Fantasiewelt, die ihren Besitzer höchstwahrscheinlich das Leben gekostet hatte. (Vielleicht sollte ich besser sagen: den von ihr Besessenen.) Die Sache schien auf einmal längst nicht mehr so klar zu sein wie noch am Morgen, als ich die Jeans und die alten roten Wanderstiefel angezogen hatte. Dabei
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