Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Kind?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, Dad«, sagte Trudy. »Mach dir mal darum keine Sorgen.«
»Ich will, dass sie zurückkommt«, sagte er. »Ich will noch einen Kuss.«
Ruth drehte sich zu mir um und sog die Lippen ein. Ein unschöner Gesichtsausdruck, den sie im Lauf der Jahre perfektioniert hatte. »Sie hat ihm den Infusionsschlauch halb herausgerissen … er blutet … und du hast nur daneben gesessen.«
»Ich werde ihn wieder reinmachen«, sagte ich, wobei jemand anders zu sprechen schien. Es war, als befände sich in mir eine weitere Person, die sich, schweigend und verblüfft, abwandte. Noch immer konnte ich den warmen Abdruck ihrer Hand auf meinem Mund spüren.
»Oh, spar dir die Mühe! Ich hab’s schon getan.«
Ralph kam zurück. »Sie sind fort«, sagte er. »Sind zur Bushaltestelle gegangen.« Er wandte sich an meine Frau. »Soll ich wirklich die Polizei rufen, Ruth?«
»Nein. Sonst müssen wir noch den ganzen Tag Formulare ausfüllen und Fragen beantworten.« Sie hielt inne. »Womöglich müssen wir sogar vor Gericht aussagen.«
»Was aussagen?«, fragte Ralph.
»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Holt mal einer das Klebeband, damit wir diese verfluchte Nadel festmachen können. Es liegt auf der Küchentheke, glaub ich.«
»Ich will noch einen Kuss«, sagte mein Vater.
»Ich hole es«, sagte ich, ging zuerst aber zur Eingangstür – die Ralph nicht nur geschlossen, sondern auch abgesperrt hatte – und sah hinaus. Die kleine Bushaltestelle mit ihrem grünen Plastikdach lag nur eine Straße weiter, aber neben dem Schild oder unter dem Dach stand niemand. Auf dem Gehweg war niemand zu sehen. Ayana und die Frau – ihre Mutter oder Aufsichtsperson – waren verschwunden. Alles, was ich hatte, war die Berührung des Kindes an meinem Mund. Ich spürte noch die Wärme, die allerdings bereits nachließ.
Jetzt kommt der Teil mit dem Wunder. Ich werde nichts davon aussparen – wenn ich diese Geschichte erzähle, dann will ich sie richtig erzählen -, werde aber auch nicht zu sehr darauf herumreiten. Wundergeschichten haben immer etwas Befriedigendes an sich, sind aber selten interessant, weil sie immer gleich sind.
Wir übernachteten in einem der Motels an der Hauptstraße in Ford City, einem Ramada Inn mit dünnen Wänden. Ralph ging meiner Frau mächtig auf die Nerven, weil er es immer Ramadammt Inn nannte. »Wenn du es ständig so nennst, dann rutscht es dir nochmal gegenüber einem Fremden heraus«, sagte meine Frau. »Dann möchtest du am liebsten im Erdboden versinken.«
Die Wände waren so dünn, dass wir Ralph und Trudy nebenan hörten, wenn sie sich darüber stritten, wie lange sie sich den Aufenthalt noch leisten konnten. »Er ist mein Vater«, sagte Ralph, worauf Trudy erwiderte: »Sag das mal unserem Stromanbieter, wenn die Rechnung ansteht. Oder deinem Chef, wenn deine Urlaubstage aufgebraucht sind.«
Es war kurz nach sieben an einem heißen Augustabend. Bald würde Ralph zu meinem Vater fahren, wo die Teilzeitpflegerin bis acht Uhr Dienst hatte. Ich fand die Pirates im Fernsehen und stellte die Lautstärke hoch, um den vorhersehbaren und deprimierenden Streit im Zimmer nebenan zu übertönen. Ruth legte Wäsche zusammen und sagte mir, wenn ich das nächste Mal billige Unterwäsche aus dem Discounter kaufe, würde sie die Scheidung einreichen. Oder mich als unbefugten Eindringling erschießen. Das Telefon klingelte. Es war Schwester Chloe. (So nannte sie sich selbst, wenn sie zum Beispiel sagte: »So, und jetzt noch ein Löffelchen Suppe für Schwester Chloe.«)
Sie verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. »Sie sollten sofort kommen«, sagte sie. »Nicht nur Ralph für die Nachtschicht. Sie alle.«
»Geht es zu Ende?«, fragte ich. Ruth hörte mit dem Zusammenlegen auf und kam herüber. Sie legte mir die Hand auf die Schulter. Wir hatten es erwartet – eigentlich darauf gehofft -, doch jetzt, da es so weit war, kam es mir so absurd vor, dass ich keine Trauer empfinden konnte. Als ich so alt war wie das kleine blinde Mädchen, das am heutigen Tag unvermittelt aufgetaucht war, hatte mir Doc beigebracht, wie man mit einem Paddelball umgeht. Er hatte mich in der Weinlaube beim Rauchen erwischt und mir – nicht wütend, sondern ganz freundlich – erklärt, dass es eine dämliche Angewohnheit sei und ich gut daran täte, es sein zu lassen. Die Vorstellung, er könnte nicht mehr am Leben sein, wenn die morgige Zeitung kam? Einfach absurd.
»Ich glaube nicht«, sagte
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