Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
doch an dem Tag, an dem meine Schwägerin sagte, Doc sei dem Tod geneigt (ich ziehe es immer noch vor, ihr diese Worte in den Mund zu legen), war die Schlacht der Gerüche fast geschlagen. Der vernarbte alte Haudegen lag mehrere Runden vor dem Newcomer Johnson’s Babypuder; bald, dachte ich, würde der Ringrichter den Kampf abbrechen. Doc konnte nicht mehr selbst auf die Toilette (die er noch immer »den Topf« nannte), er trug deshalb Windeln und Inkontinenzhöschen. Er war noch so weit bei Bewusstsein, um es mitzubekommen und sich zu schämen. Manchmal kullerten ihm Tränen aus den Augenwinkeln, und aus seiner Kehle, die einst »Hey, Good Lookin’« schmetterte, kamen unartikulierte Ausrufe verzweifelter, angewiderter Belustigung.
Die Schmerzen machten es sich in ihm gemütlich, erst im Bauchbereich, von dem sie dann in den ganzen Körper ausstrahlten, bis er sich darüber beklagte, dass ihm sogar die Augenlider und Fingerspitzen wehtaten. Die Schmerzmittel wirkten nicht mehr. Die Pflegerin hätte ihm mehr geben können, aber das hätte ihn möglicherweise umgebracht, deshalb weigerte sie sich. Ich wollte ihm mehr geben, auch wenn es ihn vielleicht umgebracht hätte. Und hätte es vielleicht sogar getan, wenn ich von Ruth darin bestärkt worden wäre, aber meine Frau gehörte nicht zu jenen, die mir darin eine große Stütze waren.
»Sie wird dahinterkommen«, sagte Ruth und meinte damit die Pflegerin, »und dann kriegst du Schwierigkeiten.«
»Er ist mein Dad!«
»Das wird sie nicht davon abhalten.« Für Ruth war das Glas immer halb leer. Das war bei ihr keine Frage der Erziehung, so war sie schon auf die Welt gekommen. »Sie wird es melden. Und dann kommst du vielleicht ins Gefängnis.«
Also brachte ich ihn nicht um. Keiner von uns brachte ihn um. Stattdessen schlugen wir die Zeit tot. Wir lasen ihm vor, ohne zu wissen, wie viel er davon mitbekam. Wir wechselten seine Wäsche und hielten die Liste mit den verabreichten Medikamenten auf dem aktuellen Stand. Es war unerträglich heiß, also stellten wir in regelmäßigen Abständen die Ventilatoren um und hofften auf ein wenig Durchzug. Wir sahen Pirates-Spiele auf einem kleinen Farbfernseher, auf dem das Gras purpurrot aussah, und wir sagten ihm, dass die Pirates dieses Jahr eine tolle Saison spielten. Wir unterhielten uns über sein immer hagerer werdendes Antlitz hinweg. Wir sahen ihn leiden und warteten, dass er starb. Eines Tages aber, als er rasselnd vor sich hin schnarchte, sah ich von den Best American Poets of the Twentieth Century auf und bemerkte an der Schlafzimmertür eine große, untersetzte schwarze Frau sowie ein schwarzes Mädchen mit Sonnenbrille.
Dieses Mädchen – ich erinnere mich an sie, als wäre es heute Morgen gewesen. Ich schätzte sie auf etwa sieben, auch wenn sie für ihr Alter äußerst klein war.Winzig eigentlich. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, das ihr bis zu den Knubbelknien reichte. Auf jedem ebenso knubbeligen Schienbein klebte ein Heftpflaster mit Zeichentrickfiguren von Warner Brothers; ich erinnere mich anYosemite Sam mit seinem langen roten Schnurrbart und einer Pistole in jeder Hand. Die Sonnenbrille sah aus wie die Dreingabe bei einem Ramschverkauf. Sie war ihr viel zu groß und auf der Stupsnase ganz nach vorn gerutscht, so dass unter den schweren Lidern ihre Augen zu sehen waren: starre Augen, von einem blau-weißen Schleier überzogen. Ihre Haare waren zu eng am Kopf anliegenden Zöpfen geflochten. An einem Arm trug sie eine rosafarbene Kinderhandtasche aus Plastik. An den Füßen dreckige Turnschuhe. Ihre Haut war nicht richtig schwarz, sondern von einem seifigen Grau. Sie hielt sich zwar auf den Beinen, sah aber fast genauso krank aus wie mein Vater.
Von der Frau habe ich ein weniger deutliches Bild vor Augen, weil das Kind meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Frau konnte vierzig oder sechzig sein. Sie hatte eine kurzgeschorene Afrofrisur und wirkte gelassen. Darüber hinaus kann ich mich an nichts erinnern – noch nicht einmal an die Farbe ihres Kleides, falls sie ein solches trug. Ich meine schon, es könnte aber auch eine Freizeithose gewesen sein. »Wer sind Sie?«, fragte ich. Ich muss dämlich geklungen haben, so als wäre ich statt von meiner Lektüre aus einem Nickerchen aufgeschreckt – was sich manchmal ja durchaus ähnlich anfühlt.
Hinter ihnen erschien Trudy und stellte die gleiche Frage. Sie klang hellwach. Und hinter ihr war Ruth mit ihrer Jetztschlägt’s -aber-dreizehn-Stimme zu
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