Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Gesicht, als hätte man ein Schaf im Haus. Ich habe ein dämliches Hausschaf geheiratet, dachte sie, und jetzt geht’s den ganzen Tag lang nur noch mäh-mäh-mäh.
Aber sie versuchte noch einmal, vernünftig zu argumentieren, obwohl sie im Innersten wusste, dass es nichts mitVernunft zu tun hatte. Es gab magisches Denken; es gab auch magisches Handeln. Laufen beispielsweise.
»Marathonläufer rennen, bis sie umfallen«, sagte sie.
»Hast du vor, einen Marathon zu laufen?«
»Vielleicht.« Aber sie blickte weg. Aus dem Fenster, auf die Einfahrt. Die Einfahrt rief sie. Die Einfahrt führte zum Gehsteig, und der Gehsteig führte zur Welt.
»Nein«, sagte er. »Du läufst keinen Marathon. Du hast überhaupt nicht vor, einen Marathon zu laufen.«
Ihr wurde bewusst – mit jenem Gefühl klarer Erkenntnis, die das Offenkundige zuweilen auslöst -, dass dies das Wesen von Henry war, der gottverdammte Inbegriff von Henry. In den sechs Jahren ihrer Ehe hatte er immer genau gewusst, was sie dachte, fühlte, beabsichtigte.
Ich habe dich getröstet, dachte sie – noch nicht zornig, aber schon drauf und dran, zornig zu werden. Du hast flennend auf dem Bett gelegen, und ich habe dich getröstet.
»Das Laufen ist eine klassische psychische Reaktion auf den Schmerz, den du empfindest«, sagte er im gleichen sachlichen Ton. »Man nennt es Vermeidungsverhalten. Aber wenn du deinen Schmerz nicht zulässt, Schatz, dann wirst du nie …«
Das war der Punkt, an dem sie das nächstgelegene Objekt packte, das zufällig ein Taschenbuch mit dem Titel Die Tochter des Fotografen war. Sie hatte es angefangen und gleich wieder weggelegt, aber Henry war, dem Lesezeichen nach zu schließen, anscheinend schon drei viertel durch. Er hat sogar den Büchergeschmack eines dämlichen Hausschafs, dachte sie und warf es ihm an den Kopf. Es traf ihn an der Schulter. Er starrte sie geschockt mit großen Augen an, dann langte er nach ihr. Vermutlich nur, um sie an sich zu drücken – aber wer wusste das schon? Wer wusste je irgendwas?
Hätte er eine Sekunde eher reagiert, hätte er sie vielleicht am Arm oder an ihrem T-Shirt zu fassen bekommen. Aber dieser kurze Moment des Schocks verhinderte es. Er verfehlte sie, und sie lief los und hielt nur noch einmal kurz inne, um sich ihre Gürteltasche vom Tisch neben der Haustür zu schnappen. Die Einfahrt hinunter zum Gehsteig. Dann den Hügel hinab, wo sie für kurze Zeit einen Kinderwagen geschoben hatte wie all die anderen Mütter, die sie jetzt mieden. Diesmal hatte sie nicht die Absicht, noch einmal anzuhalten. Nur mit Shorts, Turnschuhen und einem T-Shirt mit der Aufschrift SAVE THE CHEERLEADER bekleidet, lief Emily in die Welt hinaus. Sie schnallte sich die Gürteltasche um, während sie hügelab rannte. Und das Gefühl dabei?
Reinste Ausgelassenheit. Power pur.
Sie lief in die Stadt (zwei Meilen, zweiundzwanzig Minuten) und blieb nicht einmal an Ampeln stehen; wenn sie rot waren, joggte sie eben auf der Stelle. Zwei Jungs in einem offenen Mustang – es wurde gerade wieder Cabriowetter – bremsten neben ihr an einer Kreuzung. Der eine pfiff. Em zeigte ihm den Stinkefinger. Er applaudierte lachend, während der Mustang davonschoss.
Sie hatte nicht viel Bargeld dabei, aber Kreditkarten. Die American Express war am dienlichsten, weil sie damit Travellerschecks bekam.
Ihr wurde klar, dass sie vorläufig nicht mehr nach Hause zurückwollte. Und da diese Erkenntnis ein Gefühl der Erleichterung mit sich brachte – vielleicht sogar einen Anflug von Erregung, sicherlich aber nicht von Betrübnis -, beschlich sie der Verdacht, dass es keine vorläufige Entscheidung war.
Sie ging ins Hotel Morris, um zu telefonieren, und beschloss dort spontan, sich ein Zimmer zu nehmen. Ob sie etwas für nur eine Nacht hätten? Hatten sie. Sie reichte dem Empfangschef ihre AmEx-Karte.
»Sieht nicht so aus, als ob Sie einen Pagen brauchen.« Er musterte ihren luftigen Aufzug.
»Ich bin in Eile aufgebrochen.«
»Verstehe.« In einem Ton, der das Gegenteil besagte. Sie nahm den Schlüssel, den er ihr zuschob, und hastete durch die große Empfangshalle zum Lift, wobei sie sich im Zaum halten musste, um nicht zu rennen.
2
Du klingst, als ob du weinst.
Sie wollte sich ein paar Dinge zum Anziehen kaufen – zwei Röcke, zwei Hemden, zwei Paar Jeans, noch ein Paar Shorts -, aber vor dem Einkaufen musste sie Henry anrufen, und ihren Vater. Ihr Vater war in Tallahassee. Sie beschloss, zuerst ihn anzurufen. Sie kannte
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