Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
des Cleveland South Junior College. Sie lief zum Hotel Morris. Sie lief aus ihrer Ehe hinaus wie eine Frau, die beschließt, ihre Sandalen stehen zu lassen, um richtig loszupreschen. Dann lief sie (mit Hilfe der Southwest Airlines) nach Fort Myers, Florida, wo sie einen Wagen mietete und nach Süden in Richtung Naples fuhr.Vermillion Key lag schläfrig und so gut wie verlassen unter der brütenden Junisonne da. Von der Zugbrücke bis zur bescheidenen Hauseinfahrt ihres Vaters führten zwei Meilen Straße den Strand entlang. Am Ende der Einfahrt stand die verwitterte Muschelhütte, außen ein schäbiges Ding mit blauem Dach und abblätternden blauen Fensterläden, innen aber mit Klimaanlage und urgemütlich.
Als sie den Motor des Nissans der Avis-Autovermietung abstellte, war nur noch das Rauschen der Brandung am leeren Strand zu hören und irgendwo in der Nähe ein aufgeschreckter Vogel, der immer wieder Uh-oh! Uh-oh! rief.
Em ließ den Kopf auf das Lenkrand sinken und weinte fünf Minuten lang, ließ die ganze Anspannung, den ganzen Horror des letzten halben Jahres heraus. Versuchte es jedenfalls. Außer dem Uh-oh-Vogel war niemand in Hörweite. Als sie sich schließlich ausgeheult hatte, zog sie ihr T-Shirt aus und wischte alles weg: den Rotz, den Schweiß, die Tränen. Sie rubbelte sich bis hinab zu ihrem schlichten grauen Sport-BH sauber. Dann ging sie zum Haus; unter ihren Turnschuhen knirschten Muscheln und Korallenstücke. Als sie sich bückte, um den Schlüssel aus der Blechdose zu holen, die unter dem kitschig-kauzigen Gartenzwerg versteckt war, fiel ihr auf, dass sie seit über einer Woche keine Kopfschmerzen mehr gehabt hatte. Ein Glück, ihr Zolmitriptan war nämlich mehr als tausend Meilen weit weg.
Eine Viertelstunde später lief sie in Shorts und einem alten Hemd ihres Vaters über den Strand.
Die nächsten drei Wochen lebte sie in fast völliger Kargheit. Zum Frühstück trank sie Kaffee und Orangensaft, zu Mittag aß sie eine große Schüssel Salat, und zum Abendessen verschlang sie Fertiggerichte, meist Makkaroni mit Käse oder Kochbeutel-Gulasch auf Toast – was ihr Vater gern Scheiße auf Ziegeln nannte. Die Kohlenhydrate waren sehr nützlich. Morgens, wenn es noch kühl war, lief sie barfuß am Strand, nah am Wasser, wo der Sand fest und meist frei von Muscheln war. Am Nachmittag, wenn es heiß war (und es häufig Regenschauer gab), lief sie auf der Straße, die zum größten Teil im Schatten lag. Manchmal wurde sie patschnass. Dann lief sie lächelnd, manchmal sogar lachend durch den Regen, und sobald sie nach Hause kam, zog sie sich in der Diele aus und steckte ihre durchweichten Sachen in die Waschmaschine, die praktischerweise nur drei Schritte von der Dusche entfernt stand.
Anfangs lief sie täglich zwei Meilen am Strand und eine Meile auf der Straße. Nach drei Wochen lief sie drei Meilen am Strand und zwei auf der Straße. Rusty Jackson bezeichnete sein Refugium gern als »Die kleine Grashütte«, wohl nach irgendeinem alten Song. Das Häuschen lag am nördlichsten Punkt der Insel, und es gab nichts Vergleichbares auf Vermillion; alles andere dort war im Besitz der Reichen, der Superreichen und am südlichen Ende, wo es drei gigantische Protzpaläste gab, der Über-alle-Maßen-Reichen. Auf der Straße wurde Em manchmal von Transportern voller Gartengerätschaften überholt, aber Pkws waren selten. Die Häuser, an denen sie vorbeilief, waren alle geschlossen, die Einfahrten mit Ketten versperrt, und das würde so bleiben, bis die Eigentümer ab Oktober allmählich wieder eintrudelten. Sie fing an, sich Namen für die Häuser auszudenken: das mit den Säulen war Tara, das hinter dem hohen kahlen Eisenzaun war die Staatspension, das große, das sich hinter einer hässlichen grauen Betonmauer verbarg, war der Bunker. Das einzige kleinere, von Zwergpalmen und Bäumen der Reisenden abgeschirmte, war das Trollhaus – dessen saisonale Bewohner sich in ihrer Vorstellung von Trollhouse Cookies ernährten.
Am Strand sah sie manchmal Naturschützer patrouillieren, die nach brütenden Schildkröten Ausschau hielten, und bald grüßte sie jeden von ihnen mit Namen. Sie riefen ihr ein »Yo, Em!« zu, wenn sie vorbeilief. Sonst war kaum jemand anzutreffen, nur einmal winkte ihr ein junger Mann aus einem Hubschrauber zu. Sie winkte zurück. Ihr Gesicht war im Schatten ihrer Seminoles-Baseballkappe sicher getarnt.
Ihre Einkäufe erledigte sie im Publix fünf Meilen weiter nördlich an der U.S.
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