Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
wahrscheinlich hatte sie Recht, auch wenn er diese neumodischen Schlagwörter, von denen das 21. Jahrhundert heimgesucht wurde, nicht leiden konnte. Ob dieser ganze Vinton-Schlamassel die Krise ausgelöst oder die Krise den ganzen Scheiß erst heraufbeschworen hatte – wer wusste das schon? Er jedenfalls wusste, dass er, wenn er einen kurzen Stich in der Brust verspürte, nicht mehr Magenverstimmung, sondern Herzanfall dachte. Er wusste, dass er von der Vorstellung geradezu besessen war, seine Zähne könnten ausfallen, obwohl sie ihm nie groß Scherereien gemacht hatten. Und als er sich im April eine Erkältung zugezogen hatte, hatte er sofort einen völligen Zusammenbruch seines Immunsystems diagnostiziert.
Tja, und da war dann noch dieses andere kleine Problem. Dieser Zwang, von dem er dem Arzt nichts erzählt hatte. Nicht einmal Sammy, und Sammy erzählte er sonst alles.
Gerade jetzt verspürte er ihn wieder, fünfzehn Meilen landeinwärts auf der wenig befahrenen Route 17, auf der noch nie viel los gewesen war und die, seit es die Extension 375 gab, fast völlig überflüssig geworden war. Ausgerechnet hier, von nichts als grünem Gestrüpp umgeben (der Kerl musste bescheuert gewesen sein, hier zu bauen), wo die Grillen im hohen Gras zirpten, wo seit zehn Jahren keine Kuh mehr geweidet hatte, wo die Überlandleitungen summten und die Sonne unbarmherzig auf seinen unbehelmten Kopf herunterbrannte.
Er wusste, dass es den Zwang nur noch verstärkte, wenn er daran dachte, aber das half ihm nicht weiter. Nicht im Geringsten.
Auf einem Schild stand DURKIN GROVE VILLAGE ROAD, und er fuhr rechts ran und nahm den Gang raus. In der Mitte der unbefestigten Straße wuchs Gras – ein Pfeil, der den Weg zu Grunwalds Fehlschlag wies. Dann, während die Vespa zufrieden zwischen seinen Beinen schnurrte, bildete er mit Zeigeund Mittelfinger seiner rechten Hand ein »V« und rammte sie sich in den Hals. Sein Würgereflex war während der letzten zwei, drei Monate etwas abgestumpft, und er musste sich die Hand fast bis zu den Glücksarmbändern in den Mund stecken, bevor es endlich so weit war.
Curtis beugte sich vornüber und spie sein Frühstück aus. Ihm ging es nicht darum, sein Essen loszuwerden – er mochte vieles sein, aber bulimisch veranlagt war er bestimmt nicht. Er fand nicht einmal besonderen Gefallen daran, sich zu übergeben. Was ihm gefiel, war das Würgen: wie sich sein Magen zusammenzog und aufbäumte, wie sein Mund und sein Rachen sich weiteten. Sein Körper funktionierte wie geschmiert, fest entschlossen, den Eindringling zu vertreiben.
Die Gerüche – grüne Sträucher, wildes Geißblatt – waren plötzlich intensiver. Das Licht war heller. Die Sonne brannte stärker herab als je zuvor; sie gab sich alle Mühe, ihm den Nacken zu versengen, und vielleicht begingen die Zellen dort just in diesem Augenblick Verrat an ihm und machten sich auf den Weg in das chaotische Land der Melanome.
Ihm war es einerlei. Er lebte. Noch einmal rammte er sich die Finger in den Hals, wobei er sich den Rachen wundkratzte. Der Rest des Frühstücks machte sich selbstständig. Beim dritten Mal kamen nur noch Speichelfäden, die von seinem Blut leicht rötlich waren. Endlich war er zufrieden. Jetzt konnte er zum Durkin GroveVillage weiterfahren, dem halbfertigen Xanadu des Arschlochs mitten in der Wildnis von Charlotte County, wo die Bienen um die Wette summten.
Während er gemächlich die rechte Fahrspur entlangratterte, wurde ihm bewusst, dass Grunwald vielleicht nicht der Einzige war, der in der Klemme steckte.
Durkin Grove Village war eine einzige Katastrophe.
Auf den noch ungepflasterten Straßen hatten sich Pfützen gebildet, und im Keller der unfertigen Häuser, von denen oft noch nicht einmal das Gerippe stand, sammelte sich das Wasser. Curtis blickte auf nur zur Hälfte hochgezogene Ladenzeilen hinab, auf ein paar verrostete Baumaschinen hier und dort und auf durchhängendes gelbes Absperrband. Jetzt erst begriff er, wie sehr Grunwald in finanziellen Schwierigkeiten stecken musste – das konnte sogar seinen Ruin bedeuten. Curtis wusste nicht, ob es daran lag, dass das Arschloch seine ganze Energie auf dasVinton-Grundstück gerichtet hatte, ganz zu schweigen von der Fahnenflucht seiner Frau, seiner Krankheit und der gerichtlichen Auseinandersetzung wegen Curtis’ Hund. Jedenfalls hatte Grunwald sich übernommen, und das nach Strich und Faden. Darüber war sich Curtis im Klaren, noch bevor er zu dem offenen
Weitere Kostenlose Bücher