Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
ich das getan? Warum, wenn ich es doch besser wusste.
Er dachte: Die werden mich überfahren, und dann verrecke ich hier im Wald.
Aber der Laster fuhr ihn nicht über den Haufen. Stattdessen raste er rechts an ihm vorbei – fast wären die Reifen auf dem nassen Laub am Straßenrand weggerutscht – und stellte sich vor ihm quer.
In panischer Angst vergaß Sifkitz das Erste, was ihm sein Vater erklärt hatte, als er das Bonanzarad mit nach Hause gebracht hatte: Wenn du anhältst, Richie, dann benutze nicht nur dieVorderbremse, sondern gleichzeitig auch die Rücktrittbremse. Sonst …
Tja, sonst. In seiner Panik ballte Sifkitz beide Hände zu Fäusten und drückte die Handbremse durch. Das Vorderrad blockierte. Das Bonanza bockte und warf ihn ab. Er segelte durch die Luft auf den Laster zu, und der Schriftzug LIPIDE ABBAU & CO. wurde immer größer. Mit ausgestreckten Händen krachte er mit solcher Wucht auf die Ladefläche, dass sie ganz taub wurden. Verschwommen fragte er sich, wie viele Knochen er sich gebrochen haben mochte.
Über ihm öffneten sich die Türen, und er hörte das Laub knistern, als Männer in Arbeitsstiefeln ausstiegen. Er hielt den Blick gesenkt. Jeden Moment würden sie ihn packen und hochziehen. Aber niemand fasste ihn an. Das Laub duftete wie alter, trockener Zimt. Die Schritte umrundeten die Ladefläche, und dann war plötzlich gar nichts mehr zu hören.
Sifkitz setzte sich auf und betrachtete seine Hände. Die rechte Handfläche blutete, und das linke Handgelenk schwoll bereits an, aber gebrochen war es wohl nicht. Er schaute sich um, und zuallererst fiel sein Blick auf das Bonanzarad. Im Schein der Rücklichter schimmerte es rötlich. Als sein Vater es aus dem Fahrradladen mitgebracht hatte, war es wunderschön gewesen, aber das war einmal. Das Vorderrad hatte einen heftigen Achter, und der hintere Reifen hatte sich ein Stück von den Felgen gelöst. Zum ersten Mal empfand er etwas anderes als Furcht. Er war wütend.
Schwankend rappelte er sich auf. Hinter dem Bonanza, mitten auf der Straße, auf der er hierhergefahren war, befand sich ein Loch in der Wirklichkeit. Es sah seltsam organisch aus, so als würde er durch das Ende einer Röhre in seinem Körper blicken. Die Ränder der Öffnung waren ausgefranst und wölbten und dehnten sich. Dahinter standen drei Arbeiter in der Kellernische, in genau derselben Haltung wie tausend andere Bautrupps, die er in seinem Leben gesehen hatte. Diese Männer wussten genau, was sie tun mussten. Und gerade überlegten sie, wie sie ihre Arbeit am besten angehen sollten.
Plötzlich wurde ihm klar, warum er ihnen diese Namen gegeben hatte. Es war geradezu idiotisch einfach. Der mit der LIPIDE-Kappe, Berkowitz, war David Berkowitz, der sogenannte »Son of Sam«, über den die New York Post dauernd berichtet hatte, als Sifkitz nach Manhattan gezogen war. Freddy war Freddy Albemarle, ein Junge, den er auf der Highschool kannte – sie hatten zusammen im Orchester gespielt, und angefreundet hatten sie sich schlicht und ergreifend deshalb, weil sie das Orchester beide hassten, ihre Eltern jedoch darauf bestanden, dass sie hingingen. Und Whelan? Ein Künstler, dem er einmal auf irgendeiner Konferenz begegnet war. Michael Whelan? Mitchell Whelan? Sifkitz war sich nicht sicher, aber er wusste noch, dass der Typ sich auf Fantasy-Bilder spezialisiert hatte, auf Drachen und dergleichen. Sie hatten einen langen Abend in der Hotelbar zugebracht und sich über die ebenso komische wie schreckliche Welt der Filmplakatkünstler unterhalten.
Dann war da noch Carlos, der sich in der Garage umgebracht hatte. Aber klar doch – das war Carlos Delgado, der auch »Big Cat« genannt wurde. Über Jahre hinweg hatte Sifkitz verfolgt, wie sich die Toronto Blue Jays im US-amerikanischen Profibaseball schlugen, vor allem deshalb, weil er nicht wie alle anderen New Yorker ein Yankees-Fan sein wollte. Delgado war einer der wenigen Stars der Mannschaft aus Toronto.
»Ich habe euch alle geschaffen«, sagte er mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Krächzen war. »Aus Erinnerungen und Ersatzteilen.« Natürlich hatte er das. Und nicht zum ersten Mal! Die Jungen auf der Anzeige für die Mais-Chips zum Beispiel – auf seine Bitte hin hatte die Agentur ihm Fotografien von vier Jungen im passenden Alter zur Verfügung gestellt, und Sifkitz hatte sie einfach nur abgemalt. Die Mütter hatten die nötigen Verzichterklärungen unterschrieben – alles wie gewohnt.
Wenn sie ihn denn
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