Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Es handelt sich um Aufzeichnungen zu einem Patienten, den er als »N.« bezeichnet. Allerdings sahen sie völlig anders aus als seine offiziellen Fallaufzeichnungen, die ich gelegentlich zu Gesicht bekommen habe (nicht weil ich geschnüffelt habe, sondern weil gerade ein zufällig aufgeschlagener Ordner auf dem Schreibtisch lag). Zum einen sind die Notizen über N. im Gegensatz zu den anderen nicht in seiner Praxis entstanden, weil die Blätter nicht mit dem Briefkopf versehen sind wie die anderen Fallaufzeichnungen, die ich gesehen habe, und auch keinen roten Stempel mit der Aufschrift VERTRAULICH tragen. Zum anderen fällt dir vielleicht die schwache senkrechte Linie auf den Seiten auf. Die stammt von seinem Drucker zu Hause.
Noch etwas wirst du bemerken, wenn du die Mappe auspackst. In großen schwarzen Druckbuchstaben hat er zwei Wörter auf den Deckel gemalt: SOFORT VERBRENNEN. Fast hätte ich mich an die Anweisung gehalten, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Ich dachte, wer weiß, vielleicht sind es Drogen, die er gebunkert hat, oder Ausdrucke irgendwelcher schräger Pornoseiten aus dem Internet. Doch letztlich konnte ich als wahre Tochter der Pandora meine Neugier nicht im Zaum halten. Zu meinem Leidwesen.
Charlie, ich kann mir vorstellen, dass mein Bruder ein Buch geplant hat, etwas Populärwissenschaftliches im Stil von Oliver Sacks. Nach dem Manuskript zu urteilen, hat er sich wohl für Zwangsstörungen interessiert. Und beim Gedanken an seinen Selbstmord (falls es wirklich einer war!) frage ich mich unwillkürlich, ob dieses Interesse seinen Ursprung nicht in dem alten Sprichwort »Arzt, heile dich selbst!« hatte.
Jedenfalls fand ich den Bericht über N. und die immer bruchstückhafteren Notizen meines Bruders ziemlich beunruhigend. Wie beunruhigend? Zumindest so sehr, dass ich das Manuskript – von dem es übrigens nur diese eine Fassung gibt – einem Freund schicke, den er seit zehn Jahren – bei mir sind’s schon vierzehn – nicht mehr gesehen hat. Ursprünglich dachte ich mir, dass man das vielleicht veröffentlichen könnte, als eine Art Andenken an meinen Bruder.
Inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Das Manuskript wirkt nämlich unglaublich lebendig, aber nicht auf eine positive Weise. Ich kenne die Orte, die erwähnt werden, und ich wette, dass auch dir manche davon bekannt sind. Zum Beispiel muss das Feld, von dem N. spricht, irgendwo ganz in der Nähe des Orts sein, in dem wir als Kinder zur Schule gingen. Seit ich diese Blätter gelesen habe, spüre ich den starken Wunsch, dieses Feld zu suchen. Dabei empfinde ich die beunruhigende Ausstrahlung des Manuskripts nicht als Warnung, sondern eher als Ansporn. Wenn das kein zwanghaftes Verhalten ist, was dann?!?
Ich glaube nicht, dass es eine gute Sache wäre, diesen Ort zu finden.
Aber Johnnys Tod geht mir sehr nah, und das nicht nur, weil er mein Bruder war. Und auch das Manuskript beschäftigt mich sehr. Kannst du es bitte lesen? Und mir sagen, was du davon hältst? Danke, Charlie. Ich hoffe dich damit nicht allzu sehr zu behelligen. Und... falls du es für richtig halten solltest, Johnnys Aufforderung nachzukommen und es zu verbrennen, wirst du von mir nicht den Hauch eines Protests hören.
Liebe Grüße
von Johnny Bonsaints »kleiner Schwester«
Sheila Bonsaint LeClaire
964 Lisbon Street
Lewiston, Maine 04240
PS Meine Güte, was war ich in dich verknallt!
2. Die Fallaufzeichnungen
1. JUNI 2007
N. ist 48 Jahre alt, Teilhaber eines großen Wirtschaftsprüfungsunternehmens in Portland, geschieden, Vater von zwei Töchtern. Eine ist Doktorandin in Kalifornien, die andere studiert im dritten Jahr am College hier in Maine. Er beschreibt die aktuelle Beziehung zu seiner Exfrau als »distanziert, aber freundschaftlich«.
»Ich weiß, ich sehe älter als achtundvierzig aus«, erklärt er. »Das liegt daran, dass ich in letzter Zeit kaum geschlafen habe. Ich hab’s mit Ambien probiert und mit diesem anderen Zeug, das aussieht wie grüne Motten, aber davon werde ich nur groggy.«
Als ich ihn frage, wie lange er schon an Schlafstörungen leide, muss er keine Sekunde überlegen.
»Seit zehn Monaten.«
Ich erkundige mich, ob ihn seine Schlaflosigkeit zu mir geführt hat. Er lächelt hinauf zur Decke. Die meisten Patienten entscheiden sich zumindest bei ihrem ersten Besuch für den Stuhl – eine Frau meinte sogar einmal, sie würde sich beim Liegen auf dem Sofa fühlen wie eine Neurotikerin aus einem Cartoon im NewYorker -,
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