Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
nach dem zwangsneurotischen Kram, den er angesprochen hat. Abgesehen von den verschieden geschnürten Stiefeln, die ein verdammt gutes Beispiel dafür sind (was ich aber nicht erwähne).
»Das kennen Sie doch alles.« Er wirft mir einen gerissenen Blick zu, der mich etwas verunsichert. Ich lasse mir aber nichts anmerken, schließlich ist er nicht der erste Patient, bei dem es mir so geht. Psychiater sind eigentlich Höhlenforscher und wissen natürlich, dass es in jeder Höhle Ungeziefer und Fledermäuse gibt. Nicht gerade angenehm, aber die meisten sind völlig harmlos.
Ich bitte ihn, mir trotzdem den Gefallen zu tun und zu bedenken, dass wir uns ja erst kennenlernen müssen.
»Wir gehen noch nicht fest miteinander, was?«
Nein, sage ich, noch nicht ganz.
»Das sollte sich aber schnell ändern«, sagt er, »ich bin nämlich schon auf Alarmstufe Gelb, Dr. Bonsaint. Knapp vor Alarmstufe Rot.«
Ich frage ihn, ob er Dinge zählt.
»Natürlich«, sagt er. »Die Hinweise in den Kreuzworträtseln der New York Times ... in der Sonntagsausgabe zähle ich sogar zweimal, weil die Rätsel größer sind. Da kann zusätzliche Sorgfalt nicht schaden. Nein, sie ist absolut notwendig. Meine Schritte selbstverständlich. Das Telefonläuten, wenn ich jemanden anrufe. An den meisten Werktagen esse ich im Colonial Diner, das liegt drei Straßen von meinem Büro entfernt. Auf dem Weg dorthin zähle ich schwarze Schuhe. Auf dem Rückweg braune. Einmal hab ich es mit roten probiert, aber das war lächerlich. Nur Frauen tragen rote Schuhe, und auch da sind es nur wenige. Zumindest untertags. Ich habe nur drei Paar – sechs Schuhe also – gezählt. Da bin ich wieder zurück zum Colonial und hab von vorn angefangen – aber diesmal mit braunen Schuhen.«
Ob er auf eine bestimmte Zahl von Schuhen kommen muss, um zufrieden zu sein, frage ich ihn.
»Mindestens dreißig«, sagt er. »Fünfzehn Paar. Aber an den meisten Tagen ist das kein Problem.«
Und warum ist es notwendig, eine bestimmte Menge zu erreichen?
Er überlegt kurz und mustert mich prüfend. »Wenn ich jetzt sage: ›Das wissen Sie doch‹, wollen Sie bestimmt hören, was ich damit meine. Sie kennen sich mit Zwangsneurosen aus, aber auch ich habe ausführliche Nachforschungen zu dem Thema angestellt – sowohl in meinem Kopf als auch im Internet. Können wir nicht einfach zur Sache kommen?«
Die meisten Zähler, entgegne ich, haben das Gefühl, eine bestimmte Gesamtsumme, die sogenannte »Zielzahl«, erreichen zu müssen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Damit sich die Welt weiter um ihre Achse drehen kann, sozusagen.
Befriedigt nickt er, und die Schleusen öffnen sich.
»Einmal bin ich beim Zählen an einem Mann vorbeigekommen, dessen Bein unterm Knie abgenommen war. Er ging auf Krücken und hatte eine Socke über dem Stumpf. Hätte er einen schwarzen Schuh angehabt, wäre es kein Problem gewesen. Ich war nämlich auf dem Rückweg ins Büro. Aber er war braun. Das hat mich für den Rest des Tages aus der Bahn geworfen, und in der Nacht habe ich kein Auge zugemacht.Weil ungerade Zahlen schlecht sind.« Er tippt sich an die Schläfe. »Zumindest hier drin. Der vernünftige Teil in meinem Kopf weiß, dass das alles Quatsch ist, aber der andere Teil ist sich absolut sicher, dass es nicht so ist, und dieser Teil hat das Sagen. Man sollte meinen, dass der Bann gebrochen ist, wenn nichts Schlimmes vorfällt – und an dem bewussten Tag ist sogar was Gutes passiert: Eine angedrohte Prüfung vom Finanzamt wurde einfach grundlos abgesetzt. Aber das hat nicht geholfen. Statt achtunddreißig hatte ich siebenunddreißig Schuhe gezählt, und wenn davon nicht die Welt untergegangen ist, behauptet dieser irrationale Teil in meinem Kopf, dann habe ich das nur der Tatsache zu verdanken, dass ich weit über dreißig gekommen war.
Beim Einräumen der Spülmaschine zähle ich die Teller. Wenn es eine gerade Zahl über zehn ist, ist alles in Ordnung. Wenn nicht, stelle ich noch so viele unbenutzte Teller dazu wie nötig. Beim Besteck das Gleiche. Mindestens zwölf Teile müssen in den kleinen Plastikkasten der Spülmaschine. Da ich allein lebe, heißt das normalerweise, dass ich saubere Löffel und Gabeln hinzufügen muss.«
Was mit Messern sei, frage ich ihn, worauf er sofort den Kopf schüttelt.
»Messer nie. Nicht in die Spülmaschine.«
Auf meine Frage nach dem Grund antwortet er, dass er es nicht wisse. Mit einem schuldbewussten Seitenblick setzt er kurz darauf hinzu: »Die
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