Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Messer wasche ich immer mit der Hand im Ausguss ab.«
Messer im Besteckkasten der Spülmaschine würden die Ordnung der Welt stören, spekuliere ich.
»Nein!«, ruft er aus. »Sie haben zwar begriffen, Dr. Bonsaint, aber noch nicht vollkommen.«
Dann müssen Sie mir helfen, sage ich.
»Die Ordnung der Welt ist bereits gestört. Ich habe sie letzten Sommer gestört, als ich das Ackerman’s Field betreten habe. Bloß hab ich es damals noch nicht verstanden.«
Und jetzt verstehen Sie es?, frage ich.
»Ja. Nicht alles, aber genug.«
Ich frage ihn, ob es ihm darum geht, »die Ordnung der Welt« wiederherzustellen, oder nur darum, eine Verschlimmerung der Situation zu verhindern.
Die Muskeln in seinem Gesicht entspannen sich zu einem Ausdruck unbeschreiblicher Erleichterung. Etwas, das nach Artikulation geschrien hat, ist endlich ausgesprochen worden. Das sind die Momente, die meiner Arbeit Sinn verleihen. Es ist keine Heilung, ganz und gar nicht, doch fürs Erste hat N. ein wenig Linderung erfahren. Wie die meisten Patienten hat er das wahrscheinlich nicht erwartet.
»Ich kann sie nicht wiederherstellen«, flüstert er. »Aber vielleicht schaffe ich es, dass es nicht schlimmer wird. Ja, das kann ich. Ich hab es ja schon getan.«
Wieder bin ich bei einer dieser Weggabelungen angelangt. Ich könnte ihn jetzt erzählen lassen, was letzten Sommer – letzten August, wie ich annehme – auf dem Ackerman’s Field geschehen ist, aber das wäre wohl noch zu früh. Die Wurzeln dieses kranken Zahns sollten zunächst noch mehr gelockert werden. Außerdem bezweifle ich, dass die Ursache der Krankheit erst so kurz zurückliegt. Was ihm auch letzten Sommer zugestoßen ist, bestimmt war es nur eine Initialzündung.
Ich bitte ihn, mir von seinen anderen Symptomen zu erzählen.
Er lacht. »Das würde den ganzen Tag dauern, und wir haben …« Er schielt auf sein Handgelenk. »... nur noch zweiundzwanzig Minuten. Übrigens eine gute Zahl, zweiundzwanzig.«
Weil sie gerade ist?, frage ich.
Sein Nicken deutet an, dass ich die Zeit nur mit Selbstverständlichkeiten verplempere.
Statt ihn zu drängen, warte ich einfach ab.
»Meine … meine Symptome, wie Sie das nennen … treten in Gruppen auf.« Sein Blick wandert abermals zur Decke. »Insgesamt gibt es drei von diesen Gruppen. Sie ragen aus mir … aus dem gesunden Teil in meinem Kopf … heraus … wie Felsen … wie Felsen, genau... o Gott, lieber Gott … wie diese verdammten Felsen auf diesem verdammten Feld …«
Tränen strömen ihm über die Wangen. Zuerst scheint er es nicht zu bemerken. Die Finger ineinandergeknotet, liegt er einfach auf der Couch und starrt nach oben. Doch dann greift er zur Seite, wo auf dem Tisch »die ewige Kleenex-Schachtel« steht, wie meine Sprechstundenhilfe Sandy immer sagt. Er nimmt sich zwei Taschentücher, wischt sich die Wangen ab, und knüllt das Papier zusammen. Es verschwindet im Netz seiner Finger.
»Es gibt drei Gruppen«, fährt er mit nicht sehr fester Stimme fort. »Zählen ist die erste. Sie ist wichtig, aber nicht so wichtig wie das Berühren. Bestimmte Dinge muss ich berühren. Herdplatten beispielsweise. Beim Verlassen des Hauses oder vor dem Zubettgehen.Auch wenn ich weiß, dass sie ausgeschaltet sind – die Anzeigen weisen nach oben, nichts glimmt -, muss ich sie trotzdem berühren, um ganz sicher zu sein. Und natürlich die Tür des Backrohrs. Auch die Lichtschalter fasse ich an, bevor ich aus dem Haus oder dem Büro gehe. Bloß so ein schnelles zweifaches Antippen. Wenn ich mich ins Auto setze, muss ich zuerst viermal aufs Dach klopfen. Und sechsmal, wenn ich am Ziel angekommen bin. Vier ist eine gute Zahl, und sechs ist ziemlich okay, aber zehn … zehn ist wie …« Ich sehe eine Tränenspur, die ihm entgangen ist und im Zickzackkurs vom rechten Augenwinkel zum Ohrläppchen führt.
Als würden Sie fest mit der Frau Ihrer Träume gehen?, helfe ich aus.
Ein Lächeln erscheint auf seinen Lippen. Es ist wunderbar müde – ein Lächeln, dem es zunehmend schwerfällt, am Morgen aufzustehen.
»Genau«, sagt er. »Und sie hat ihre Schnürsenkel unten gebunden, damit es alle wissen.«
Berühren Sie auch andere Dinge?, frage ich, obwohl ich die Antwort auf meine Frage bereits weiß. In den fünf Jahren meiner Tätigkeit als Therapeut sind mir schon viele Fälle wie N. untergekommen. Manchmal stelle ich mir diese Unglücklichen als Menschen vor, denen Raubvögel das Fleisch vom Leib hacken. Die Vögel sind unsichtbar,
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