Sunshine Ranch 04 - Myriams letzte Chance
den Entführer übergeben hatte. Nach einer SMS von Sarah würde sie Charlie wiederfinden und bei dieser Gelegenheit auch die gefesselte Myriam entdecken.
Sie würde so tun, als wäre sie vollkommen überrascht. Aber das würde ihr nichts nützen, weil Myriam alles gehört hatte und genau Bescheid wusste.
Myriam öffnete die Augen einen Spalt und sah, dass Sarah telefonierte.
„Hi, ich bin’s“, sagte sie. „Alles in Ordnung hier. Sie können das Pferd abholen.“
Einen Moment lang lauschte Sarah in den Hörer, dann nickte sie ungeduldig.
„Ja, natürlich ist alles okay mit ihm. Ist doch nicht das erste Ding, das wir zusammen drehen. Wir werden uns nicht mehr sehen. Ich nehme den ersten Flieger, der Düsseldorf verlässt. Und mit dem Geld verfahren wir wie gewohnt.“
Sie legte auf, steckte das Handy ein und drehte sich zu Myriam um, die ihre Augen schnell wieder zukniff.
Hatte Sarah bemerkt, dass sie bei Bewusstsein war? Großer Gott, jetzt näherten sich ihre Schritte. Diesmal blieb Sarah zu ihren Füßen stehen und starrte Myriam misstrauisch an. Jedenfalls glaubte Myriam, dass sie misstrauisch angestarrt wurde, sie hatte ja die Augen geschlossen.
Sie hätte vor Schreck beinahe laut aufgeschrien, als Sarah sie plötzlich unsanft bei den Beinen packte. Myriam wurde über den harten Betonboden des Stalls gezerrt, quer durch den Raum.
Jetzt ist alles aus, dachte Myriam, die ihre ganze Willenskraft aufwenden musste, die Arme nicht schützend um ihren Kopf zu legen. Und nicht laut zu wimmern. Rrrums!, holperte ihr Rückgrat über eine Türschwelle. Eine Sekunde später schlug ihr Kopf so heftig auf der Schwelle auf, dass sie fast erneut die Besinnung verloren hätte. Aber nun ließ Sarah ihre Beine fallen.
Eine Tür knallte ins Schloss und Myriam schlug die Augen auf. Aber das nützte nichts. Hier gab es nichts zu sehen.
Der Raum, in den Sarah sie gebracht hatte, war stockfinster.
Ein rostiger Nagel
Sie musste hier raus. Sie musste sich irgendwie befreien. Myriam wand und drehte sich auf dem harten Boden wie ein Fisch an Land. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit einem Seil gefesselt, das sich immer fester zusammenzuziehen schien, je mehr sie sich bewegte.
Sie blieb still liegen und tastete mit den Händen über den Boden. Durch die Hin-und-her-Dreherei war eine Menge Staub aufgewirbelt worden. Sie musste husten und hatte das Gefühl, dass sie hinter dem Klebeband fast erstickte. Inzwischen hatten sich ihre Augen ein bisschen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie lag in einer winzigen Abstellkammer. An der Wand lehnte eine Schubkarre, daneben hingen Sicheln, Schaufeln und Spaten.
Der Raum war von oben bis unten vollgestopft mit Geräten und Werkzeug. Mit etwas Glück fand sie irgendetwas Spitzes auf dem Boden, mit dem sie die Fesseln durchtrennen konnte. Ihre Finger glitten über Strohhalme, Stofffetzen, Holzsplitter. Ein alter Handschuh. Ein zerknülltes Taschentuch. Sie zog die Knie an, stemmte die Füße auf den Boden und schob ihren Körper rückwärts durch den Raum. Da war ein Stein, oder war es ein Lehmklumpen? Ein Plastikaufsatz für eine Gießkanne. Ein Hufeisen. Ein rostiger Nagel.
Ein Nagel! Das war nicht ideal, aber es konnte funktionieren. Es musste einfach funktionieren!
Myriam bohrte die rostige Nagelspitze wieder und wieder in die Fasern der Schnur, die sie fesselte. Sie riss und zerrte, zog und drückte. Immer wieder hieb sie den Nagel versehentlich in ihren Arm, aber sie spürte es kaum. Ein paarmal entglitt er ihren Fingern, fiel zu Boden und rollte weg. Dann dauerte es kostbare Minuten, bis sie ihn wieder fand.
Sie durfte keine Zeit verlieren. Dieser Typ, mit dem Sarah telefoniert hatte, konnte jeden Augenblick hier sein, um Charlie abzuholen. Myriam arbeitete fieberhaft. Dennoch dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich die Schnur an einer Stelle zu lockern begann. Und als sie endlich riss, drang bereits graues Morgenlicht durch das schmutzige Fenster unter dem Dach. Es wurde Tag.
Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding, nachdem sie auch die Fußfesseln gelöst hatte und sich endlich hochgerappelt hatte. Allerdings nur einen Moment lang. Dann schoss das Blut zurück in ihre Füße. Es war ein Gefühl, als ob jemand mit heißen Nadeln auf sie einstach. Myriam wimmerte leise, während sie zur Tür humpelte. Bestimmt hatte Sarah sie abgeschlossen, bevor sie in Richtung Flughafen abgehauen war.
Sie drückte die Klinke nach unten. Die Tür ging auf. Sie ging auf! Von einer Sekunde auf
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