Super Sad True Love Story
erhielt einen Notruf-Teen von Nettie Fine: «LENNY, BIST DU IN SICHERHEIT? ICH MACH MIR SOLCHE SORGEN! WO BIST DU?» Ich schrieb zurück, dass Noah, Eunice und ich auf Staten Island seien und gerade versuchten, zurück nach Manhattan zu gelangen. «LASS MICH WISSEN, WAS PASSIERT, AUF SCHRITT UND TRITT », schrieb sie und beschwichtigte meine Ängste. Alles ging den Bach runter, aber meine amerikanische Mama passte noch immer auf mich auf.
Ich bog links in die Hamilton Avenue, der Fähranleger war nur noch einen steilen Abstieg zur Bucht entfernt. Ein Medienhengst im Laufschritt, ganz Zähne, Sonnenbrand und offenes Guayabera-Hemd, lief uns fast über den Haufen. «Sie schießen auf Medienleute», posaunte er in seinen Äppärät und zu jedem, der es hören wollte.
«Wo?», riefen wir.
«Hier. In Manhattan. Brooklyn. Die Vermögensschwachen brennen Kreditmasten nieder! Die Garde schießt zurück! Die Venezolaner fahren den Potomac hinauf!»
Noah riss uns zurück, schlang die Arme um Eunice und mich, seine verhältnismäßig große Kraft und die massige Trägheit seines Körpers quetschten uns zusammen, weckten meinen Hass. «Wir müssen einen Bogen schlagen!», rief er. «Auf keinen Fall dürfen wir die Hamilton runter. Da sind überall Kreditmasten. Die Garde wird das Feuer eröffnen.» Ich sah, wie Eunice ihn lächelnd ansah, ihm zu seiner fadenscheinigen Entschlussfreudigkeit gratulierte. Amy streamte über ihre geliebte Mutter – einen von der Sonne ausgedörrten Prototyp der heutigen Medienhure –, die momentan in Maine urlaubte, und wie sehr sie die vermisse, wie sehr sie sich wünsche, sie hätte sie dieses Wochenende dort besucht, aber Noah,
Noah
habe ja darauf bestanden, zur Party von Vishnu und Grace zu gehen, und jetzt sei das Leben richtig scheiße, oder?
«Kannst du mich zum Tompkins Park bringen?», fragte Eunice Noah.
Er lächelte. Inmitten all der Hysterie
lächelte er
. «Mal sehen, was ich tun kann.»
«Seid ihr denn alle geisteskrank?», schrie ich. Aber Noah zerrte Eunice und Amy schon Richtung Victory Boulevard. Auch dort rannten Leute umher, weniger als auf der Hamilton Avenue, aber immer noch mindestens ein paar hundert, verängstigt und orientierungslos. Ich bekam Eunice zu fassen und entwand sie Noahs Griff. Mein zwar schlabbriger, aber realer Körper, fast doppelt so schwer wie ihrer, wickelte sich um sie und lotste uns alle gegen den Strom, meine Arme wehrten die Wucht der vorrückenden Horden ab, die Parade erschreckter junger Menschen, den frontalen Ansturm ihrer blumigen Waschlotionen, die Dichte ihrer Überlebensunfähigkeit. Vor uns schwelten zwei Kreditmasten in der grauen Vorgewitterhitze, die LE D-Anzeigen herausgeschlagen, Funken sprühten aus den elektronischen Innereien.
Ich schob mich voran, und mein angeborenes Russischsein, Hässlichsein, Jüdischsein pulste durch meine Adern – Ernstfall, Ernstfall, Ernstfall –, während ich meine wertvolle Fracht vor Schaden schützte, ihr Schminktäschchen von Padma mir in die Rippen stach, der Schmerz der scharfen Kanten mir Tränen in die Augen trieb.
Ich flüsterte Eunice zu: «Süße, Süße, alles wird gut werden.» Aber das war nicht nötig. Eunice kam klar. Wir fassten uns an den Händen. Noah führte Amy, Amy führte Eunice, und Eunice führte mich durch die kreischende Menge, die mal hierhin, mal dorthin wogte, wenn Gerüchte sich mit Äppärätgeschwindigkeit ausbreiteten. Auch das Wetter schlug um, als wollte es uns weiter reizen, heftiger Wind peitschte uns zunächst aus Osten, dann aus Westen.
Hinter dem alten Gerichtsgebäude lag ein städtisches Grundstück, das zum Stützpunkt der Nationalgarde geworden war: Hubschrauber, die von dort starteten, Truppentransporter,Panzer, sich drehende Browning-Maschinengewehre und ein kleiner Bereich, der als Gitterkäfig abgezäunt war, ein paar ältere Schwarze waren darin interniert. Wir rannten. Das alles bedeutete nichts mehr. Nichts. Die ganzen Schilder. Die Straßennamen. Die Wahrzeichen. Selbst hier, im Reich meiner Angst, konnte ich nur daran denken, dass Eunice mich nicht liebte, dass sie ihren Respekt vor mir verlor, dass Noah ausgerechnet in dem Augenblick zum entscheidungsstarken Führer wurde, wo sie eigentlich
mich
brauchen sollte. Staten Island Bank & Trust. Friseursalon «Gegen den Strich». Stiftung Kinder-Evangelisation. Gesellschaft für psychische Gesundheit Staten Island. Die Verrazano Bridge. A&M Kosmetikwaren. Planet Pleasure.
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