Super Sad True Love Story
Enden wie riesige rußgeschwärzte Akkordeons aussahen. Diese Sozialwohnungen steckten voller russischer Emigranten, und meine Eltern hatten immer befürchtet, ein weiterer Schritt nach unten auf der ökonomischen Leiter würde uns direkt nach LeFrak führen, wo wir nach Ansicht meiner Mutter alle umgebracht würden. Galja Abramov war eine Art Hellseherin.
Das gesamte Gelände der LeFrak City war von provisorischen Zelten übersät. Menschen kampierten auf einer Fußgängerüberführung auf Matratzen, der beißende Geruch von minderwertigem Grillfleisch wehte zu uns herunter. Während wir an der Sozialsiedlung vorüberfuhren («Ein bisschen besser leben» lautete das ehrlich gemeinte Motto aus der Mitte des 20. Jahrhunderts), verwandelten sich die gegenüberliegenden, nach Manhattan führenden Fahrbahnen in ein schier endloses Durcheinander aus Fahrzeugen, die langsam um eine Karawane von Männern,Frauen und Kindern jeglicher Herkunft herumkurvten, Menschen, die gefügig ihre Habseligkeiten in Rollkoffern und Einkaufswagen mit sich schleiften. «Sind eine Menge Leute nach Westen unterwegs», sagte Palatino, als wir an einer Gruppe von Mittelklassewagen vorbeikrochen, winzigen Samsung Santa Monicas und dergleichen, auf deren Rücksitzen Mütter sich schützend an ihre Kinder schmiegten. «Je näher an der Innenstadt, desto besser. Selbst wenn man in einer Fünf-Jiao-Kolonne arbeiten muss. Arbeit ist Arbeit.»
«Wo wohnen Sie?», fragte ich Palatino.
«Ecke 68 th und Lexington.»
«Schöne Gegend», sagte ich. «Dicht beim Park.»
«Meine Kinder lieben den Zoo. Wapachung wird uns einen Panda besorgen.»
Davon hatte ich schon gehört.
Drei Stunden später fuhren wir die Old Country Road entlang, die Champs-Élysées von Westbury, vorbei an den zumeist zugenagelten Schatten vergangenen Konsums, der
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, dem Tierbedarf Petco, dem Starbucks. Ein Haufen Möchtegernkunden drängte sich noch vorm
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. Kloakengeruch und ein heftiger brauner Dunst drangen durch die Fenster, doch ich hörte auch laut kreischendes menschliches Gelächter und Menschen, die einander eher freundlich auf der Straße etwas zubrüllten. Irgendwie kam es mir so vor, als wäre ein Vorort wie Westbury mit seinen Bewohnern aus Arbeiterschaft und Mittelschicht, all den Salvadorianern, Südostasiaten usw., so ähnlich wie früher New York, als es noch eine richtige Stadt gewesen war. Die Old Country Road hatte an diesem Tag etwas Reizendes: Leute schlenderten umher, tauschten Waren, aßen Papusas, junge Mädchen und Jungen, die nichts anhatten und einander liebevoll antexteten. «Haben dieSicherheit hier gut im Griff», bestärkte Palatino meine Gedanken. «Die Guten haben alle Waffen, und sie haben ihre Werte strategisch gestreut.» Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, wovon er redete.
Wir bogen von der Einkaufsstraße in die Ruhe der Washington Avenue ab. Trotz des heiteren Friedens in der Wohnstraße meiner Eltern weckte ein Schild mit der Aufschrift «Achtung, gehörlose Kinder» mein Misstrauen. Ich versuchte mich zu erinnern, ob es in meiner Jugend hier gehörlose Kinder gegeben hatte, aber mir fiel kein einziges ein. Wer waren diese gehörlosen Kinder, und welche Zukunft erwartete sie heute?
Wir näherten uns dem Haus meiner Eltern, vor dem immer noch störrisch die riesigen Flaggen der Vereinigten Staaten von Amerika und des SicherheitsStaates Israel flatterten. Hinter der Fliegentür konnte ich erkennen, wie sich die Abramovs aneinanderschmiegten, und eine Sekunde lang schien es, als gäbe es nur einen Abramov, denn obwohl meine Mutter zart und hübsch war und mein Vater nicht, wirkten sie wie Zwillinge, als würde sich einer im anderen widerspiegeln. Was in den letzten Monaten vorgefallen war, blieb ungewiss. Sie waren gealtert, grauer geworden, aber gleichzeitig sah es so aus, als hätte man beiden einen unbestimmbaren Teil chirurgisch entfernt und so eine Art trübe Durchsichtigkeit entstehen lassen. Als ich mit ausgebreiteten Armen auf sie zuging und die Reisetasche mit Tagamet-Magenpillen und anderen Mitbringseln mir gegen die Hüfte schlug, bemerkte ich, wie sich dieses Durchsichtige zum Teil wieder schloss: wie ihre zerknitterten Gesichter die Freude an meinem Überleben, an meiner körperlichen Anwesenheit, an meiner untrennbaren Verbundenheit mit ihnen begrüßten, wie überrascht sie waren, dass ich tatsächlich vor ihnen stand, und wie insgeheimverletzt und beschämt dazu, weil sie weniger für
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