Super Sad True Love Story
Lebensfreunde, die womöglich für unser Produkt zu interessieren wären. Ich sah mich schon ins Büro von Chef Joshie spazieren und sagen: «Guck dir das an! Selbst auf der Reise sucht dein Lenny noch nach Klienten. Ich bin wie ein Arzt: immer im Dienst!»
Allerdings sind First Class Lounges auch nicht mehr, was sie mal waren. Die meisten asiatischen VPPs fliegen heutzutage Privatmaschinen, aber mein Äppärät machte immerhin ein paar registrierfähige Gesichter aus – einen früheren Pornostar und einen aalglatten Typen aus Mumbai, der gerade dabei war, sein erstes weltweites Konsumimperiumaufzubauen. Sie hatten beide ordentlich Geld, wenn auch nicht die zwanzig Millionen Nordeuro flüssiges Kapital, nach denen ich Ausschau halte, aber da saß noch ein Typ, der
überhaupt keinen
Ausschlag auf meinem Äppärät erzeugte. Ich meine, er war gar nicht da. Er selbst hatte keinen Äppärät, oder wenn doch, dann war der nicht auf Sozialmodus gestellt, oder vielleicht hatte er irgendeinen jungen russischen Hacker dafür bezahlt, jede Übertragung zu blockieren. Und er sah wie ein Nobody aus. So wie Leute heute eigentlich nicht mehr aussehen. Nicht bloß unvollkommen, sondern schlimm. Ein fetter Kerl mit tief in den Höhlen liegenden Augen, eingefallenem Kinn, schlaffen, staubigen Haaren, einem T-Shirt , das fast den Blick auf seine großen Brüste freigab, und einem widerlichen Zelt an der Stelle, wo man sein Geschlechtsteil vermuten durfte. Niemand außer mir sah ihn an (und ich auch nicht länger als eine Minute), weil er am Rand der Gesellschaft stand, weil er keinerlei Rang oder Stellung hatte, weil er NK oder «nicht konservierbar» war, weil er hier bei den echten VPPs in der First Class Lounge nichts zu suchen hatte. Im Rückblick möchte ich ihm jetzt Heldenmut zuschreiben; ich möchte ihm ein dickes Buch in die Hand drücken und eine noch dickere Lesebrille auf die Nase setzen. Ich möchte, dass er aussieht wie Benjamin Franklin. Aber ich habe dir die Wahrheit versprochen, liebes Tagebuch. Und die Wahrheit ist: Kaum hatte ich ihn gesehen,
hatte ich Angst.
Der nicht konservierbare Dicke starrte mit im Schritt gefalteten Händen aus dem Fenster, und sein Kopf bewegte sich zufrieden hin und her, als wäre er ein halb untergetauchtes Krokodil, das einen Sonnentag genießt. Blind für uns andere, betrachtete er mit begeisterter Hingabe die schnittigen, neuen delphinnasigen Flugzeuge der China Southern Airlines, die an unseren 737er Boeings von UnitedContinentalDeltamerican,an denen die Farbe abblätterte, und den ebenso verrottenden El-Al-Maschinen vorbeirollten.
Als wir nach dreistündiger Verzögerung wegen technischer Probleme endlich an Bord konnten, kam ein junger Mann in legerer Geschäftskleidung den Gang entlang und nahm uns alle auf Video auf, wobei er wiederholt den Dicken ins Visier nahm, der errötete und sich abwandte. Mir tippte der Mann auf die Schulter und bat mich mit gedehntem südenglischem Akzent,
direkt
in seine uralte, unförmige Kamera zu schauen. «Warum?», fragte ich. Das bisschen Aufmüpfigkeit reichte ihm anscheinend, er ging weiter. Als wir in der Luft waren, versuchte ich den Videofilmer, den Otter und den Dicken aus meinen Gedanken zu streichen. Auf dem Rückweg von der Toilette nahm ich Fatty bloß noch als pastellfarbenen Fleck in der Ecke wahr, eine vom Sonnenschein höherer Luftschichten liebkoste Gestalt. Ich zog einen abgegriffenen Band mit Tschechows Erzählungen aus dem Handgepäck (könnte ich ihn doch auf Russisch lesen wie meine Eltern) und blätterte zu der Novelle
Drei Jahre
vor, der Geschichte des unattraktiven, aber anständigen Laptew, Sohn eines reichen Moskauer Kaufmanns, der sich in die schöne und viel jüngere Julija verliebt. Ich hoffte, einige Ratschläge zu finden, wie ich Eunice weiter verführen und die Schönheitskluft zwischen uns überwinden könnte. An einer Stelle der Novelle hält Laptew um Julijas Hand an, und zunächst weist sie ihn ab, doch dann überlegt sie es sich anders. Besonders hilfreich fand ich diese Stelle:
[Die attraktive Julija] quälte sich, war verzagt und redete sich jetzt ein, dass sie einen anständigen, guten und sie liebenden Menschen nicht deswegen zurückweisen könne,
weil er nicht gut aussah
[Hervorhebung von mir], besonders wenn sich ihr mit dieser Heirat die Möglichkeit böte, ihr Leben, ihr trauriges, monotones und müßiges Leben zu ändern, bei dem
die Jugend verging und die Zukunft nichts Besseres
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