Surf
doch kein echtes Physikgenie zu sein; normalerweise hätten Physiker in seinem Alter ihren Zenit erreicht, irgendein fundamentales Problem gelöst oder bestimmte Begriffe neu definiert. Nach dem Telefonat rief mich ein Freund an und lud mich zu seiner Hochzeit oben in der Stadt ein. Dann ging ich aus dem Haus. Um die Interpretation des Physikers zu überprüfen, schlenderte ich zum Strand hinunter, wollte mir die Wellen ansehen. Es war wie für andere ein Spaziergang im Park, durch das örtliche Wäldchen oder über den Feldweg. Diesen Weg ging ich inzwischen jeden Abend und sah dabei sogar einige vertraute Gesichter. Ich freute mich auf den bevorstehenden Weihnachts-Umzug im Yachthafen: Segelboote voller farbiger Lichter, elektrischer Weihnachtsmänner und Krippen würden am Abend die Kais entlangfahren. Spaziergänger mit Hunden, Nachdenkliche, die barfuß im Wasser wateten, unzertrennliche Liebespaare. Tieforange ging die Sonne auf der Westseite der Stadt unter. Darüber die schwarzen Silhouetten der Eukalyptusbäume und Palmen, während die zunächst flammend roten Streifen erst einem tropischen Violett, dann dem Kobaltblau der Nacht wichen. Die regelmäßige westliche Dünung in den letzten Tagen war zu einem Gemurmel, einem sinnlosen Gebrabbel verklungen. Man hört Surfer häufig in diesen Begriffen über Wellen reden, besonders an Tagen, an denen die Wellenbänder durchbrochen und die Intervalle zu kurz sind, wenn das Meer eher einer kabbeligen Gischt als einer Ordnung hereinrollender Energie ähnelt. «Alles ist durcheinander», sagt dann immer jemand, um das Bild zu beschreiben. Ich erinnere mich, dass ich selbst mal zu Willie ohne einen Hauch von Ironie über das Wasser sagte: «Mann, es ergibt echt keinen Sinn.» Mir gefiel die implizite Bedeutung, dass in Zeiten sauberer Dünung das Meer tatsächlich einen Sinn ergab, als habe es eine Botschaft zu verkünden, als spreche es eine Sprache. In Zeiten wahrhaftig bemerkenswerter Brandung, wenn alle Vektoren von Dünung und Wind mit genau der richtigen Tide zusammenfallen, sodass dein lokaler Surfspot vor Leben geradezu vibriert, ist es so, als habe ein Freund, dessen Gestammel du wochen- oder monatelang ertragen hast, endlich gelernt, die pulsierende Welt zu besingen. Als habe jemand plötzlich eine Rede, die normalerweise schwer zu verstehen und etwas unartikuliert ist, nicht nur gut vorgetragen, sondern auch noch in einer unmissverständlichen und nur an dich addressierten Sprache. Endlich ist das Chaos reduziert auf eine einzelne Idee. Wenn Vince allmorgendlich zur Klippe radelte, um die optimale Verbindung der Elemente für den Tag zu berechnen, suchte er gewissermaßen nach dem Augenblick, in dem die Welt genau das Lied anstimmte, das er – und ich – am liebsten hörte.
Natürlich gibt es zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Lieder: getragen-kriegerische Wagner-Opern zu mächtigen Nordwestwinden oder, wenn das Licht durch die Sturmwolken dringt und eine südliche Dünung frontal auf den Point trifft, die mystische Klarheit eines Gedichts von Wallace Stevens. (Es gibt also wohl doch ziemlich gute Belege dafür, dass eine göttliche Hand im Spiel ist.) Ein ähnliches Gefühl hatte ich einmal an der letzten Steilwand am El Capitan. Als wir die Vorderkante eines großen Vorsprungs überwunden hatten, sahen wir über 30 Meter glatten, überhängenden Granits. Inmitten dieser Fläche, die man im Grunde nicht erklettern konnte, verlief eine einzelne, perfekte Spalte. In dem Moment schien die Welt nach einem menschlichen Entwurf gemacht; oder anders ausgedrückt, endlich war meine eigene Beziehung zur Welt so klar, dass ich die Fähigkeit der Natur erkannte, sich präzise auszudrücken. Immerhin sind Wellen überwältigend komplex. Skinny hatte mich damit aufgezogen, dass ich erst dann ein echter Surfer wäre, wenn ich mir einen Receiver zum Empfang der Wetterberichte und -vorhersagen gekauft hätte, und da ich einen ziemlichen Authentizitäts-Tick habe, ging ich sofort los und kaufte mir einen. Ich ließ ihn ständig leise laufen. Wie wir alle wissen, kann ein Übermaß an Information von Übel sein. So wie die Nonstop-Berichterstattung im Fernsehen über einen Krieg oder einen Mordprozess einen Menschen geradezu tyrannisieren kann, so tyrannisierten mich die stündlichen Wind-Updates, die dreistündlichen Seewetterberichte samt Intervallen. Letztere Zahl, die durchschnittliche Zeit, die zwischen dem Passieren einzelner Wellenberge verstreicht, wurde in
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