Surf
Madagaskar zu hören war, zerstörte eine verheerende, zwischen 20 und 40 Meter hohe Flutwelle – ein Tsunami – Hunderte Städte und tötete über 36 000 Menschen. Seismische Erschütterungen des Meeresbodens können die gleichen Auswirkungen haben: 1960 löste ein Erdbeben von der Stärke 8,5 auf der Richterskala in Chile einen Tsunami aus, der quer über den Pazifik lief und die Stadt Hilo auf Hawaii dem Erdboden gleichmachte. Dann gibt es da natürlich noch die Monsterwellen, gelegentlich vorkommende, über alle Maßen große Wogen. Sie werden von den zusammenströmenden Dünungen geformt, die einen davon abhalten sollten, an ansonsten windstillen Tagen auf vorgestreckten Landzungen spazieren zu gehen. Ein Beispiel ist die 40 Meter hohe Welle, auf die am 7. Februar 1933 die USS Ramapo im Nordpazifik traf; ein Seemann besaß offenbar die Kaltblütigkeit, die Wellenhöhe zu messen, indem er von einem hohen Punkt mittschiffs aus triangulierte. Doch so unterhaltsam solche Geschichten auch sein mögen, Surfer leben mit viel prosaischeren Phänomenen: Windwellen, sogar Gezeiten, die eigentlich ebenfalls Wellen vom Umfang der halben Erde und einen halben Tag voneinander entfernt sind. Die Flut ist folglich ein weltweiter Wellengipfel, die Ebbe dagegen ein globales Wellental. Und man surft auf den abklingenden Impulsen ferner Stürme: Sonnenwärme und globale Winde erzeugen Hoch- und Tiefdrucksysteme, stürmische und windstille Gebiete; ein Hochdruckgebiet über Oregon, ein Tiefdruckgebiet vor Anchorage. Wind aus dem wärmeren Hoch strömt in das kältere Tief und holt sich Luft aus einem Abschnitt über dem Meer, wo dann die Wellen entstehen: Die Reibungsenergie des Windes kräuselt zuerst das Wasser, drückt dann die kleinen Wellen weiter vor und produziert eine Kabbelsee. Durch das Voranschieben der unebenen Wasseroberfläche entsteht ein beständiger Seegang, der die Sturmregion verlässt und übers offene Meer zieht, wobei er sich festigt, verdichtet und zu klaren Dünungslinien, Wellenkolonnen, verbindet. In diesen Kolonnen weicht die vordere Welle ständig der hinter ihr liegenden, hinter denen immer neue auftauchen – ein Kreislauf von Formen, die eine Makrokräuselung erzeugen, der sich drehende Teil einer Sinuskurve.
So hat die Dünung, die an die Küste rollt, sauber und weit entfernt vom Sturm, Hunderte, ja Tausende Meilen ruhigen Wassers zurückgelegt. Treffen die Wellen auf flacheres Wasser, verlangsamen sie sich und passen sich der Untiefe an. Dadurch wird die Wellenenergie winklig vom Boden abgelenkt und gestaut, bis die Welle bricht. Dann treibt man dahin und wartet auf einen Impuls der Sonne: Die Form der Welle, die man reitet, ist Ausdruck des fernen Sturms, der Form des Meeresbodens, über den man gerade treibt, der präzisen Richtung, aus der eine Dünung auf den Meeresboden trifft, sowie der örtlichen Winde. Der Druck von Landwind auf die Wellenrücken lässt diese zu schnell brechen; ablandiger Wind auf ihre Vorderseite macht sie schön steil und schnell. Und der Meeresboden, den man selten sieht, aber genau kennt: Form und Schaum sich brechender Wellen geben dem Boden in einer Art flüssiger Modellierkunst sein Relief. Ein Surfer lernt die Topographie des Meeresbodens durch den Ausdruck in den Wellen kennen; durch die Löcher, in denen die Wellen verschwinden, und durch die Riffe, über denen sie sich auftürmen. Während der Regenfälle der vorausgegangenen Wochen hatten sich fast ständig am äußeren Ende der Klippe neben meinem Haus Zuschauer versammelt, um die Mündung des San Lorenzo River zu beobachten. Jeden Abend standen schaulustige Kerle am Holzgeländer und sahen zu, wie tonnenweise Schlamm in die Bucht geschwemmt wurde und durch die braunen Brecher schwappte. Die Mützen im strömenden Regen tief ins Gesicht gezogen, standen sie schwatzend da und spekulierten darüber, ob dies das Jahr war, auf das alle gewartet hatten, das Jahr, in dem die Sandbank vor der Flussmündung endlich ihre Form wiedergewann, die sie im legendären Winter 1983 gehabt hatte. In dem Jahr hatten ähnliche, sehr nasse pazifische Stürme, «Ananas-Express» genannt, so viel Schlamm und Sand aus den Bergen in genau der richtigen Form angespült, dass sich auf einer Länge von fast hundert Metern eine makellos hohle Welle brach. Seither waren die Bedingungen zwar nicht entfernt wieder so gewesen, aber jedes Jahr – zumal in einem so nassen wie diesem – keimte wieder Hoffnung auf.
Und doch fragt man sich,
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