Surf
unbedeutendes Ereignis außerhalb der linearen Zeit. Sicher, du kannst deine letzte Welle erwischen, doch wird das weniger der natürliche Schlusspunkt einer intensiv erlebten Erzählung sein als eher der Moment, an dem der Kreis durchtrennt wird. Anstelle von Bedingungen – beispielsweise einer guten Westdünung oder einem leicht ablandigen Wind – erzählt man sich von entspannten Zweimeterwellen nahe am Ufer. Kein Konflikt, keine Krise und keine Lösung; kein schwer zu erreichendes Ziel, kein Kampf zwischen Mannschaften oder zumindest gegen den eigenen Schweinehund. Kein Hindernis, das man gegen große Widerstände überwindet – ja, das Schwierigste beim Surfen geschieht, bevor man auf dem Board auf die Füße kommt. Deshalb sind Gespräche mit Nichtsurfern etwa so, als erzählte man: «Ich bin heute rausgegangen und habe masturbiert, und es war toll.» Wen schert's? In der reichen Tradition der Geschichten über das Wellenreiten geht es eher darum, was man davor und danach gemacht hat, weniger um das Surfen selbst – außer vielleicht im Fall einer enorm großen, gefährlichen Welle. Gewiss, jeder kann die Freude nachempfinden, die das Meer bietet – Vögel, Fische, Delphine, Seehunde und Otter und vielleicht Haie und Seetangstränge, die in der Dünung umhertreiben und hier und da ihre Meereshexenköpfe herausstrecken – möglicherweise kann man sich sogar ausmalen, wie sich der kristallene Vorhang ringsherum senkt, oder sich die unbändige Freiheit vorstellen, wenn man in den goldenen Ball einer sinkenden Sonne gleitet. Trotzdem ergibt es keine Geschichte. Und deshalb ist die Haltung, selbstgefällig mit einem «Wenn du schon fragst …» zu antworten, die mangelnde Artikuliertheit als Elitebewusstsein auszugeben, weit verbreitet: «Nur ein Surfer kennt dieses Gefühl.» Man hört oft den Vergleich von Surfen mit Sex; eine ziemlich gewagte Analogie, außer vielleicht, was das selbstvergessene Teilhaben an einem energiegeladenen Geschehen betrifft, das ständige körperliche Reagieren auf ein sich änderndes Medium, was – bestenfalls – alle Gedanken an Vergangenheit und Zukunft auslöscht. Willie drückte es später einmal so aus, dass Surfen für ihn einem japanischen Tanz auf Reispapier ähnele, bei dem der Tänzer so vorsichtig auftritt, dass das Papier nicht zerreißt. Er meinte, dass jede Welle alles, was zuvor geschehen sei, fortspüle. Und an jenem Tag am «Chums», während ich aus einer Welle rauspaddelte und im Gefühl eines grandiosen Wellenritts schwelgte, bemerkte ich, dass ich mich an nichts Besonderes erinnern konnte, nicht einmal an die ungebrochene Wellenwand, die hereinrollte.
Als es dämmerte, waren wir alle erschöpft und doch aufgekratzt. Die Sonne glitzerte hinter den Wolken wie eine blutige Muschelschale in einem grauen Teich. Im Norden, oberhalb der Insel vor der Küste rahmte ein erster Flecken Blau ein Stück Regenbogen, dann klarte der Himmel über uns auf, und ein riesiges Bollwerk aus weißem Nebel erglühte hell-rosa. Willie erwischte eine letzte Welle. Und während ich auf meine wartete, dachte ich, wie furchtbar es wäre, entzweigebissen zu werden, nachdem man sich schon zum Gehen entschlossen hatte – wie ein Polizist, der am Tag seiner Pensionierung erschossen wird. Doch dann erschien meine letzte Welle, ein stilles Geschenk, schimmernd und silbrig-weich, ohne Gebrüll, Gebell oder Gebeiße; hob mich auf einer hundert Meter langen Wand, die ich kaum sah. Als wir auf dem Schieferplateau standen und unsere klammen Neoprenanzüge auszogen, am nassen Gummi zerrten und fuchtelten, um alle Gliedmaßen freizubekommen, wehte eine laue Brise von den Klippen herunter. Plötzlich spürte ich Gewissensbisse, auch wenn ich keine Ahnung hatte, warum. Weil ich nicht weiterkam im Leben? Zeit verlor? Den Zug des Lebens verpasste? «Wir werden am Himmelstor bestraft werden, nicht wahr?»
«Nein», sagte Willie. «Gott interessiert sich nicht für so was.» Leider klang diese Versicherung nicht ganz überzeugend in seinem Alter. Was immer er sich im Leben beweisen musste, hatte er anscheinend bereits bewiesen.
Besorgt blickte ich mich nach Vince um. Er blies die Backen auf, als wollte er sagen: Lass mich da bloß raus. Damit erklärte er sein unveräußerliches Recht, sein frei gewähltes Leben zu genießen. Über uns auf der Klippe hockte ein großer Habicht mit goldfarbener Brust auf einem runden Felsen. Er hatte sich niedergelassen, um in die letzten Strahlen der untergehenden
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