Survive
werde.
Ich bleibe stehen, drehe den Rücken in den Wind und blicke zurück zu Paul. Es tut mir leid, denke ich. Eine Träne gefriert mitten auf meiner Wange, und ich stelle mir sein Gesicht vor. Worte erreichen mich und verbinden uns. Der Schnee ist dein Freund, höre ich ihn sagen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er das vorher schon mal zu mir gesagt hat, aber das Wort Schnee hallt mir durch Kopf und Herz. Ich beginne zu graben, so lange bis ich auf Erdboden stoße. Das Loch ist vielleicht einen Meter tief. Ich bahne mir meinen Weg zurück zu Paul, hebe ein Grab von der Länge meines Körpers aus. Ich wickele meinen Schlafsack auf und stelle mich hinein. Ich ziehe den Reißverschluss hoch bis an die Achseln und setze mich in mein Schneegrab.
Ich schaufele rasch Schnee auf meine Füße und meine Beine und bedecke schließlich auch meine Brust. Ich schließe meinen Schlafsack ganz, lasse aber einen Arm draußen und schaufle mit der rechten Hand so viel Schnee wie irgend möglich über mich. Ich ziehe die Hand in den Schlafsack und lausche auf mein Schicksal, spüre ihm nach. Der Wind hat sich gelegt, oder zumindest bekomme ich ihn hier unten nicht mehr so ab. Der Schlafsack hält meine Wärme drinnen, und die Kälte des Schnees dringt nicht zu mir durch, zumindest jetzt noch nicht.
Ich lächle, als ich Paul sagen höre: G ut gemacht, Solis. Ich schließe die Augen, und kurz bevor ich einschlafe, schießt ein Gedanke durch meinen Kopf: Er hat zu mir gesprochen. Das war keine Erinnerung.
Kapitel 32
Wieder eine Nacht ohne Träume. Tot. Lautlos. Ich erwache vor Tagesanbruch. Kein Geräusch ist zu hören. Kein Heulen. Kein Wind. Mir ist zwar noch warm, aber die Kälte des Schnees ist jetzt zu spüren.
Augenblicklich wühle ich mich aus meinem Nachtlager und stehe auf.
»Ich lebe«, rufe ich. »Paul, wo immer du bist, ich lebe.«
Ich rolle meinen Schlafsack zusammen und trinke die kleine Menge Wasser, die über Nacht in meiner Flasche geschmolzen ist. Meine Beine haben sich nicht erholt, und vom allerersten Schritt an schmerzen sie wie verrückt.
Ich kämpfe mich durch die grenzenlose Weite, und je länger ich gehe, desto endloser kommt sie mir vor. Ich habe das Gefühl, dass mir jemand folgt, schaue mich immer wieder um, und zweifle mehr und mehr an meinem Verstand. Für einen winzigen Augenblick stelle ich mir vor, dass es Paul ist, dem es besser geht und der nun fest entschlossen nach mir sucht und mich retten will. Aber er kommt nicht. Träum weiter, Jane, diesmal bist du vollkommen auf dich allein gestellt. Konzentrier dich darauf, Solis, konzentrier dich.
Allmählich nähere ich mich einem Wald, der am Horizont sichtbar wird. Ich bin den größten Teil des Tages durch knie- und hüfthohen Schnee gestapft. Meine Beine sind gefühllos und erfroren. Ich blicke mich um, und dann packt mich das nackte Grauen.
Es war nicht Paul, der mir gefolgt ist, sondern ein Wolf. Ein einsamer schwarzer Wolf, der sich in Zickzacklinien vorwärtsbewegt. Ich beobachte, wie er durch den Schnee hin und her läuft, und zuerst denke ich, dass er vielleicht auf der Jagd nach Kaninchen oder Präriehunden ist. Doch sogleich wird mir bewusst, dass sein Blick auf mir ruht. Langsam pirscht er sich an mich heran, wartet darauf, dass ich ins Schwanken gerate. Dann wird er sich auf mich stürzen und mir das Fleisch von den Knochen reißen.
Mit jedem Schritt sehe ich den Wolf näher kommen. Je dichter der Wald heranrückt, umso dichter schließt der Wolf auf. Weiß er, dass ich jenseits des flachen Graslandes womöglich in Sicherheit bin? Adrenalin schießt mir durch die Adern, und ich arbeite mich schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, durch die letzten zwanzig Meter Schnee und Gras.
Immer wieder spähe ich zurück. Als sich mein Tempo beschleunigt, wird auch der Wolf schneller. Er fällt in Trab und scheint mir nun auf direkterem Weg zu folgen als zuvor. Als ich ihn fest ansehe, hält er inne. Ich spüre, dass auch in ihm Furcht lauert. Der Gedanke macht mir Mut. Der große, böse Wolf hat Angst vor mir! Nun, vielleicht keine Angst, aber er ist vorsichtig, bevor er zum Angriff übergeht.
Ich erreiche den Wald, drehe mich schnell um und mustere den Wolf abschätzend. Er ist knochendürr. Er bleibt abrupt stehen, und zum ersten Mal wendet er nicht den Kopf ab. Ich will wegrennen, aber mein Bauchgefühl befiehlt mir, auszuharren, und sei es auch nur für einen Augenblick. Seine Augen sind gelb und sein Fell größtenteils
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