Survive
dem Wolf selbst ist weit und breit nichts zu sehen. Ich mache mich Richtung Westen auf, versuche mir, meine bisherige Route ins Gedächtnis zu rufen.
Ich komme nur langsam voran. Der Wald ist dicht, hügelig und voller kleiner und großer Felsen. Ich bin müde und nach der letzten Nacht mit den Nerven am Ende, daher stolpere und falle ich öfter als sonst. Bei jedem Ausgleiten gerate ich in Panik und erwarte, dass sich der Wolf auf mich stürzt. Meine Beine sind zunehmend geschwächt von der Überanstrengung und dem Mangel an Nahrung, und meine Knie geben mehrmals unter mir nach. Mein Körper, der sich härter ins Zeug gelegt hat, als ich es ihm je zuvor abverlangt habe, fordert vor allem Wasser. Es ist das erste Mal, dass ich Angst habe zu verdursten, aber wenn ich den Schnee esse, werde ich an Unterkühlung sterben. Obwohl der Morgen einen milden Tag versprochen hat, verschwindet die Sonne nun hinter einer Wolkenwand. Ich kann über meinen Optimismus von vorhin nur den Kopf schütteln. Doch ich stürze mich deshalb nicht in Selbstmitleid oder flippe aus, wie ich vielleicht noch letzte Woche reagiert hätte. Es ist besser, als überhaupt keine Sonne zu haben. Ich bejubele ihre Wärme, noch während Enttäuschung in mir aufsteigt. Ich muss nur durchhalten, bis die Wolken wieder weiterziehen. Ich setze meinen Weg fort, immer einen Fuß vor den anderen.
Meine Hände leiden allmählich an Erfrierungen. Sie waren seit Tagen kalt, doch an diesem Morgen bemerke ich, dass sich die Finger meiner linken Hand ganz taub anfühlen. Ich begutachte meine Fingerspitzen, und sie wirken dunkler als sonst. Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht nur eine hysterische Einbildung ist. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass meine Beobachtung zutrifft, aber nicht, ob es auch bedeutet, dass ich meine Finger verlieren werde.
Plötzlich muss ich daran denken, wie ich mit dem Messer in meiner Hand dastand, und daran, dass ich vor nicht allzu langer Zeit glaubte, es würde mir irgendeine Art von Glücksgefühl verschaffen, mich selbst zu schneiden. Jetzt stößt mich schon der Gedanke ab, auch nur einen Tropfen meines Blutes zu vergießen. Ich reibe kurz die Finger gegeneinander und bete, dass ich sie am Ende doch behalten kann.
Gegen Mittag halte ich an. Ich habe stundenlang gekämpft, und ich habe nicht den Eindruck, viel weitergekommen zu sein. Ich finde einen großen Stock und hebe ihn auf. Er ist etwa fünfzehn Zentimeter länger als ich, liegt gut in der Hand und wirkt stabil. Ich marschiere mit ihm weiter, und er gibt mir das Gleichgewicht und den Halt, den ich so dringend brauche. Ich wünschte nur, mir wäre dieser Einfall früher gekommen.
Als ich das Geräusch des Flusses zum ersten Mal höre, ist es ein dumpfes Rauschen. Zuerst ist es nur leise, wie das einschläfernde Murmeln eines Fernsehers in einem weit entfernten Raum. Aber es wird mit jedem Schritt lauter, und schließlich schalten die richtigen Synapsen in meinem Gehirn und beginnen zu feuern. Und ich begreife ihr Signal. Fluss. Wasser. Ich beschleunige meinen Schritt und finde mich bald über einer Schlucht wieder und blicke hinab auf einen üppig fließenden, breiten, nicht vereisten Fluss.
Ich schaue nach Norden und nach Süden, den Fluss hinauf und hinunter, finde jedoch keinen Weg, der hinabführt. Ich könnte versuchen, dem Flusslauf zu folgen, aber ich bin mir nicht sicher, ob meine Beine mich noch tragen können. Wenn ich Wasser hätte, ja, dann könnte ich weitergehen. Doch durch den ständigen Mangel an Nahrung und Flüssigkeit bin ich völlig entkräftet. Das Wasser ist so nah. Ich schaue hinunter. Es geht etwa fünf Meter einen steil abfallenden Hang hinab, der mich direkt ans Ufer bringen würde. Ich versuche abzuschätzen, wie groß der Schaden wohl sein wird, den ich mir durch den Sturz zuziehen würde, wobei ich die Schneedecke und die Hangneigung mit einkalkuliere. Am Ende ist die Rechnung weit weniger schwer als die Aufgaben in den Algebraprüfungen, bei denen ich immer durchgefallen bin. Wenn ich versuche, am Rand der Schlucht entlang weiterzugehen, werde ich definitiv sterben. Wenn ich hinabspringe, werde ich wahrscheinlich sterben. Ich wäge meine Möglichkeiten ab und entscheide mich für »wahrscheinlich sterben«.
Ich gehe einige Meter in jede Richtung und suche nach dem idealen Platz, um zu springen. Ich weiß aus dem Sportunterricht, dass ich beim Landen die Knie beugen und dann nach vorn abrollen soll. Ich werfe meinen Stock hinunter, er
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