Survive
einander noch einen Moment länger. Dann wende ich mich von ihm ab, rappele mich auf und gehe los.
»Ich liebe dich, Jane«, ruft er.
Ich bleibe stehen und drehe mich um. Ich nehme ihn mit den Augen tief in mich auf, damit mein Herz und mein Verstand diesen Moment und diesen schönen Jungen, der immer mein sein wird, für immer und ewig in Erinnerung behalten werden. »Ich liebe dich auch«, weine ich. Ich hebe meinen großen Fäustling an den Mund und werfe ihm eine Kusshand zu. Er lächelt sein breites, schiefes, unbeholfenes, wunderschönes Lächeln. Ich werde es niemals vergessen.
Ich lasse unseren Unterschlupf hinter mir. Er ist nun allein mit den Worten seines Bruders, der Erinnerung an meinen Kuss und der Angst, dass das Ende seiner Zeit auf Erden gekommen ist. Ich werde Hilfe holen.
Ich stapfe den Bergkamm entlang, und es ist fast so, als bewege ich mich durch Wolken. Der Gebirgsnebel hüllt mich ein, und ich kann unmöglich sagen, wohin mich mein Weg führt. Paul hat mir eingebläut, direkt auf dem Kamm zu gehen, und nach dem zu urteilen, was ich vor dem letzten Sturm bei klarer Sicht gesehen habe, müsste der Kamm irgendwo hier in dieser Gegend anfangen, niedriger und flacher zu werden. Wenn ich auf ebenes Terrain hinuntergelangen kann, in freies Gelände, und wenn es aufhört zu schneien und die Wolkenbänke abziehen, wird mich bestimmt ein Flugzeug finden oder irgendjemand, der nach uns sucht.
Das sind eine ganze Menge »Wenns«.
Der Kamm wird nun tatsächlich immer flacher und geht dann in einen steilen, langen Hang über, der nicht annähernd so felsig ist wie das Tal zuvor. Die Baumgrenze kommt in Sicht, und ich bin dankbar für den Schutz vor dem Wind, den mir die Bäume bieten. Ich schaue oft zum Himmel auf und hoffe, ein Flugzeug zu sehen. Einmal höre ich ein Geräusch in weiter Ferne, und ich gebe mich der Vorstellung hin, dass mich ein Flugzeug entdeckt und dann vom Himmel geschossen kommt, um Paul zu retten. Ich verbanne alle Gedanken an ihn, wie er allein dort in unserem Unterschlupf liegt, aus meinem Kopf und lasse im Geist einfach noch einmal unsere letzte gemeinsame Nacht Revue passieren, wieder und immer wieder.
Am frühen Nachmittag zittern meine Beine, und mein Gang wird unsicher und wackelig. Jeder Schritt verlangt mir eine unglaubliche Kraft ab, die mein Körper nicht mehr hat. Gewaltsam konzentriere ich mich aufs Weitergehen und wiederhole Pauls Namen wie ein Mantra. Wenn eine Suchmannschaft mich jetzt finden würde, hielte man mich wohl für eine Obdachlose, die irgendeinen irren Singsang über einen lang verlorenen Verwandten vor sich hin brabbelt. Aber es ist dieses Singen, die Wiederholung seines bloßen Namens, was mich aufrecht hält.
Am späten Nachmittag habe ich die Talsohle erreicht, und ich überblicke eine weite, flache, baumlose Ebene. Mein Verstand sagt mir, dass man mich hier bestimmt einfacher aufspüren wird. Mein Bauchgefühl stellt sich jedoch meiner Zuversicht in den Weg. Schutz. Ich kann Pauls Stimme hören, der sagt, dass nach Wasser der Unterschlupf am wichtigsten ist. Die Bäume und Felsen bieten mir Schutz und die besten Überlebenschancen, falls das Wetter umschlägt, aber das offene Gelände verspricht die größte Wahrscheinlichkeit, dass ich gefunden werde und Paul gerettet werden kann.
Ich wage den ersten Schritt in die endlose Weite und versinke tief im Schnee. Seine Höhe und Beschaffenheit ist mit derjenigen auf dem von Bäumen geschützten Berghang nicht im Mindesten vergleichbar. Zudem ist es nicht kalt genug, sodass der Schnee nicht festfriert, wie oben auf dem Berggipfel. Flipp jetzt bloß nicht aus , befehle ich mir, während ich einen zweiten Schritt und dann noch einen mache. Es ist schwer, und ich komme kaum voran. Meine Beine sind so müde, dass ich jedes Fünkchen Kraft brauche, um die Füße wieder aus dem Schnee zu ziehen. Je weiter ich in die offene Landschaft hinausstapfe, umso tiefer werden die Verwehungen, und als dann urplötzlich die Nacht hereinbricht, bin ich deprimiert über die klägliche Strecke, die ich bisher zurückgelegt habe.
Der Wind frischt auf und ist teuflischer als bisher. Mit jeder Bö spüre ich, wie die Temperatur sinkt. Nun ist es also wieder so weit. Auf die eine oder andere Weise durchlebe ich zum wiederholten Male diesen Moment im Flugzeug mit den Pillen in meiner Hand. Ich werde es niemals über diese verschneite Steppe schaffen, und es ist so bitterkalt, dass ich die Nacht nie und nimmer überleben
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