Survive
legt, verlass mich.«
Es folgt eine lange Pause, und ich versuche, all die Gefühle zu verarbeiten, die in mir wogen. Ich bin am Boden zerstört, doch ich halte mich an einem simplen Gedanken fest.
»Ich werde Hilfe holen.«
Er nickt, aber es bedeutet nicht: Ja, hole Hilfe für mich. Es bedeutet: Sag, was immer du sagen musst, um weggehen zu können und dabei ein gutes Gewissen zu haben. Lüge, wenn du musst, aber mach für uns beide weiter.
»Lies mir vor«, bittet er nach langem Schweigen. »Den Brief.« Ich kann jetzt die dunklen Ringe unter seinen Augen sehen. Ich betrachte seine Haut genauer, und selbst in der Dunkelheit hat seine bleiche Haut einen gelblichen Schimmer.
Ich ziehe den Brief aus meiner Tasche und beginne zu lesen.
Ich spüre, wie ein leises Schluchzen durch Pauls Körper pulst, und ich höre auf und horche.
»Alles in Ordnung? Ist es zu viel für dich?«
»Nein, es ist gut so. Ich vermisse ihn.«
»Es tut mir leid.«
»Er ist ein oder zwei Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag gestorben. Es ist irgendwie schön zu hören, wie sich deine Stimme mit seiner überlagert.«
»Soll ich weiterlesen?«
»Ja.«
Ich fahre mit der Hand durch sein Haar und küsse ihn auf die Wange. Ich fange noch einmal von vorn an und lese ihm vor. Und dann lese ich den Brief noch mal, und Tränen rinnen über sein Gesicht.
Als ich fertig bin, greift Paul nach mir, zieht mich an sich und küsst mich.
»Kannst du mir ein Blatt Papier aus dem Tagebuch reißen und mir den Stift aus meinem Rucksack geben?«
Ich greife nach seinem Rucksack und finde einen Stift. Ich reiße ein Blatt aus dem Büchlein und reiche es ihm. Er kritzelt schnell einige Wörter darauf und faltet das Blatt zusammen.
»Gib das meinem Vater, wenn du unten bist«, sagt er.
»Gib es ihm einfach selbst, okay?«, presse ich mit tränenerstickter Stimme hervor.
Er legt mir die Hand aufs Gesicht, während Tränen meine Wangen herunterkullern. Kalte Luft wirbelt um uns herum.
Wir küssen uns wieder und wieder. Dann öffne ich das Blatt und lese seine Nachricht. Sie ist so einfach, dass es mir das Herz bricht:
Dad,
ich liebe dich. Es tut mir leid.
Paul
Kapitel 31
Ich erwache vor ihm, und von einer dunklen Vorahnung getrieben lege ich sofort eine Hand auf Pauls Brust, um mich davon zu überzeugen, dass er noch lebt. Sein Herz schlägt, und ich kann seine Atmung hören. Doch sie geht flach und keuchend. Die lange Ruhepause hat meinem Körper neue Kraft verliehen, und obwohl ich steif und kalt bin, fühle ich mich stark und entschlossen. Ich werde Hilfe für Paul holen oder bei dem Versuch sterben.
Während er schläft, packe ich meinen Schlafsack und stecke meine Flasche ein. Ich schnappe mir die Steigstöcke, allerdings hoffe ich, dass ich sie nicht brauchen werde.
Als ich so weit bin, rüttele ich Paul, und er streckt die Hand aus und greift nach meiner.
»Komm mich holen. Selbst wenn es lange nach meinem Tod ist. Versprich mir, dass du hierher zurückkommen wirst.«
»Hör auf damit. Ich werde jemanden herbringen, der dir helfen wird. Du wirst am Leben sein, wenn ich zurückkomme.«
Meine Stimme versagt bei dem Wort Leben. Ich betrachte seinen Körper, und ich kann sehen, wie kalt und bleich und zerschunden er ist. Meine Hoffnung schwindet von Sekunde zu Sekunde, genauso wie das Blut aus seinem Körper sickert. Ich fühle mich hilflos und zornig, aber ich reiße mich zusammen und zeige ihm, dass ich keine Angst um mich oder ihn habe und dass ich schon bald mit Hilfe zurück sein werde.
»Ist schon gut«, sagt er. »Vielleicht hat das Schicksal andere Pläne.«
»Glaubst du an so was?«
»Ich glaube daran, dass wir einander gefunden haben.«
»Als sei es uns so bestimmt gewesen.«
Er nickt.
»Bevor meine Mutter starb, sagte sie mir, sie werde ein Stern in der Nacht sein und ich könne immer hinaufschauen und sie finden. Ich habe das lange Zeit wirklich geglaubt.«
»Das ist sehr rührend«, antworte ich.
»Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst«, meint er und sinkt zurück, als fehle ihm die Kraft, sich aufrecht zu halten.
»Ja«, sage ich, »ich auch. Wenn du mich brauchst.«
Ich küsse ihn ein letztes Mal so leidenschaftlich und liebevoll, wie meine trockenen Lippen und mein trauriges Herz es zulassen. Er drückt seine Wange zärtlich an meine. Dann küsst er mich noch einmal auf die Augen und flüstert: »Leb wohl.«
Mir entfährt ein kurzer Schluchzer, und ich spüre, wie seine Brust sich hebt, und wir umarmen
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