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Survive

Survive

Titel: Survive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Morel
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landet auf dem Boden der Schlucht und rollt auf das Flussufer zu, ohne zu zerbrechen. Er hüpft auf und überschlägt sich ein wenig, aber er übersteht den Aufprall unversehrt. Ich könnte mit ihm noch etliche Kilometer weitergehen.
    Ich werde bis drei zählen und dann springen. Gott, bitte, hilf mir, bete ich. Eins. Paul, bleib bei mir. Zwei. Paul, ich komme zurück zu dir. Drei. Spring, Jane, spring. Ich mache einen Satz, und für eine lange grausige Sekunde schwebe ich in der Luft, bis die Schwerkraft über meinen Körper siegt. Der Abwärtssog lässt mich in die Tiefe sausen, und ich falle, bis meine Füße – peng! – hart auf dem Untergrund aufprallen. Obwohl meine Beine angezogen sind und meine Oberschenkel und Waden den Sturz ein wenig abfangen, wird mein Körper dennoch wie von einem Blitzschlag erschüttert. Ich stürze kopfüber durch die Luft, klatsche mit dem Gesicht in den Schnee, überschlage mich, lande für einen kurzen Moment auf den Füßen, um dann sofort wieder umzufallen, als meine Knöchel nachgeben und ich wegkippe. Ich rolle und schlage Purzelbäume, bis ich am Flussufer lande.
    Endlich höre ich auf zu rollen und liege keuchend auf dem Rücken, voller Angst, mich zu bewegen. Ich öffne die Augen und betrachte die düsteren, grauen Wolken, die tief am Himmel hängen.
    Ich lebe, sage ich leise zu niemand Bestimmten. Oder vielleicht denke ich es auch nur, ich bin mir nicht sicher. Meine Hände und Handgelenke sind erstaunlicherweise unverletzt, aber mein linker Knöchel schwillt sofort an, und der Schmerz ist gewaltig. Ich kann den Fuß ein wenig bewegen, also ist mein Knöchel immerhin nicht gebrochen. Mit meinen gefrorenen Fingern versuche ich, den Stiefel so stramm wie irgend möglich zu schnüren. Das laute Tosen des Flusses dringt in meine Ohren, und plötzlich vertreibt das ausgedörrte Gefühl in meinem Mund mit aller Macht jeden anderen Gedanken. Ich rapple mich auf alle viere hoch und krieche die restlichen Meter zum Fluss. Das Wasser strömt ziemlich schnell, und ich achte darauf, mich nicht zu weit vorzubeugen, um nicht mitgerissen zu werden. Eine Schlagzeile, die ich mir lieber nicht vorstellen möchte: MÄDCHEN RETTET SICH AUS DEN BERGEN , NUR UM IN FLUSS ZU ERTRINKEN .
    Ich erreiche den Uferrand und trinke in großen Schlucken. Essen. Trinken. Schokoriegel. Kaninchen. Was auch immer: Nichts hat jemals so ungeheuer erfrischend geschmeckt wie das Flusswasser. Das trübe, eisige Wasser strömt mit solcher Wucht in meinen Mund, dass ich mich fast verschlucke. Ich versuche, so trocken wie möglich zu bleiben, aber Wasser fließt an meinem Hals hinunter und läuft in meine Jacke und auf meine Brust und meinen Bauch. Ich beherrsche mich für ein paar Sekunden, dann trinke ich hastig weiter. Ich wiederhole das Ganze mehrmals, bis mein Bauch anschwillt. Dann rolle ich mich einfach auf den Rücken und verliere das Bewusstsein.
    Als ich aufwache, habe ich immer noch Durst, den ich mit einigen weiteren Zügen aus dem Fluss stillen kann. Doch mein Magen krampft sich zusammen. Ich spüre die ganze Anstrengung des Tages in den Knochen, und die Hölle des immer noch vor mir liegenden Marsches rückt wieder in mein Blickfeld. Ich muss nur die Kraft für eine einzige Rumpfbeuge aufwenden, um aufzustehen, aber alle Energie und Motivation ist dahin. Ruh dich aus, und versuche es dann. Ruh dich aus, Jane, und versuche es dann.
    Ich schließe die Augen und lasse meine Gedanken schweifen, bis mein Vater erscheint. Er ist jung, wie auf dem Foto auf der Ankleidekommode meiner Mutter. Er hat einen weißen Pullover mit einer dunklen, blau-roten Bordüre um einen kleinen V-Ausschnitt an, denselben Pullover, den er an seinem letzten Weihnachten getragen hat. Er ist braun gebrannt und trägt eine Sonnenbrille, die seine traurigen Augen verbirgt.
    »Es geht mir gut«, sagt er.
    Ich strecke die Hand aus, um ihn zu berühren. Sein Gesicht ist glatt rasiert, und der Geruch von Old Spice liegt in der Luft. Ich drehe sein Gesicht zur Seite, sodass ich es im Profil betrachten kann, aber was ich wirklich sehen will, ist das Loch in seinem Kopf. Es ist schwarz und von dunklem, weinrotem Blut verkrustet. Ich lege die Fingerspitzen auf das Loch, bohre sie sanft hinein und hole eine silberne Kugel heraus. Blut beginnt über seine Wange zu fließen.
    Er dreht sich wieder um und legt mir seine warme Hand aufs Gesicht. »Danke, Jane. Es geht mir gut. Mach ohne mich weiter. Mir geht es gut.«
    Ich nicke, und ich fange an

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