Survive
schwarz, mit einigen grauen Flecken. Er stützt sich schwerfällig auf die linke Pfote und hebt die rechte. Ist er verletzt? Ich kann es nicht sagen. Ich habe noch keine anderen Wölfe gesehen. Hat er sein Rudel verlassen, oder ist er zurückgelassen worden?
Da er wahrscheinlich verletzt ist, ist er wohl auch nicht allzu schnell, vermute ich, und dann kann er noch schlechter klettern. Wölfe sind sowieso schlechte Kletterer. Ich finde etwa fünfzehn Meter tief im Wald eine große Kiefer und beginne sie hinaufzusteigen. Ich halte für einen Moment inne, um zurückzuschauen, aber ich sehe nichts. Wenn er mich direkt hätte angreifen wollen, wäre es sicher bereits passiert, oder? Klettere einfach, Jane. Klettere.
Der Stamm ist dicht mit Ästen bewachsen, und es kostet mich jedes Mal einige Zeit, um von einem eisverkrusteten Ast zum nächsten zu steigen, aber ich komme stetig voran. Ich glaube, ein leises Knurren unter mir auszumachen, doch ich schaue nicht runter. Dann kratzt da etwas am Baumstamm, aber ich rede mir wieder ein, dass seine Verletzung den Wolf am Klettern hindern wird. Und selbst wenn er klettern könnte, würde ich mich lieber von oben, in einem Baum, gegen ihn zur Wehr setzen als auf offenem Feld, wo er gewiss den Sieg davontragen würde.
Ich rutsche und gleite etwa sechs, sieben Meter nach oben, finde eine Art natürlichen Hochsitz und höre auf weiterzuklettern. Ich ziehe meine beiden Kletterstöcke heraus, sitze da und warte auf den Kampf. Und wenn ich hier oben sterbe, so werde ich zumindest kämpfend untergehen. Brodelt da nicht ein wenig Mordlust in meinen Adern? Mittlerweile freue ich mich beinahe auf einen Kampf. Ich spüre, wie mir der ungehemmte Wahnsinn durch die Glieder strömt, doch er ist völlig anders als der Wahnsinn, den ich aus der Klinik kenne. Er hat ein Ziel, und ich kann ihn kontrollieren.
Ich warte und horche, höre allerdings nichts außer den üblichen nächtlichen Geräuschen des Waldes. Der Wind pfeift leise, in der Ferne bricht ein Ast und fällt, und ich lausche auf das Rascheln der Bäume. Angst kriecht mir den Rücken hinauf, als ich mir vorstelle, dass der Wolf die Äste emporklettert, sich langsam und methodisch heranschleicht.
Würde ich ihn hören? Kann ich ihn in dieser Dunkelheit ausmachen? Ich verbanne solche Gedanken aus meinem Kopf. Lass die Stimmen nicht wieder das Kommando übernehmen, Jane. Ich denke an Paul, und ich frage mich, ob er noch lebt. Der Wind weht, und ich stelle mir vor, dass es Paul ist, der mir aus der Ferne eine Umarmung herüberschickt.
Was soll ich jetzt bloß machen? Ich kann unmöglich wieder hinuntersteigen.
Ich rolle meinen Schlafsack aus und hocke mich auf mehrere eng beieinanderstehende große Äste, in die ich meine Füße und Beine verhake, um mir einen festen Halt zu verschaffen. Ich kuschle mich in den Schlafsack, ziehe den Reißverschluss hoch und schnüre oben alles fest zu, dann drücke ich mich mit dem Rücken so dicht wie möglich an den Baumstamm.
Als ich da oben im Baum sitze, mache ich mir Gedanken über die Kälte. Ich friere jetzt so stark, dass es alle Vorstellungskraft übersteigt. Ich weiß, dass die Temperaturen verglichen mit dem, was wir zuvor durchgemacht haben, relativ mild sind, und deshalb beunruhigt mich das Kältegefühl in meinen Knochen. Ich friere, weil meinem Körper die Energie ausgeht und er durch die Anstrengungen der letzten Tage und durch das ständige Ausgesetztsein an Wind und Wetter völlig ausgebrannt ist. Ich mag stärker sein, als ich gedacht hätte, aber ich werde nun auch immer mehr geschwächt. Ich kann nur hoffen, dass mich bald jemand findet.
Kapitel 33
Ich bin die ganze Nacht über wach. Adrenalin überschwemmt meinen Körper, für alle Systeme gilt die höchste Sicherheitsstufe, und meine Sinnesfunktionen sind in volle Alarmbereitschaft versetzt. Ich registriere jedes Astknacken über Hunderte von Metern hinweg, und ständig zucke ich zusammen, bis die Sonne aufgeht.
Von meinem Platz im Baum aus sehe ich, wie sich die Morgendämmerung am Himmel auszubreiten beginnt. Es ist ein klarer Tag, und ich glaube, er wird mild werden. Jetzt ist es so weit, gelobe ich mir. Heute ist mein Tag. Heute ist der Tag, an dem ich meinen Weg hier herausfinde. Heute ist der Tag, an dem ich Hilfe für Paul hole.
Ich klettere langsam hinab und halte meine Stöcke bereit. Als ich den Boden erreiche, schaue ich mich aufmerksam um und erblicke frische Pfotenabdrücke rund um den Baum herum, aber von
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