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Survive

Survive

Titel: Survive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Morel
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zu weinen, und seine Hand wischt jede Träne fort.
    »Mir geht es auch gut, Daddy.«
    Und ich glaube es tatsächlich. Das ist das erste Mal, dass ich mich je so gefühlt habe, Traum hin, Traum her, seit dem Tag, an dem mein Vater sich umgebracht hat. In der Schwärze, die durch mein Inneres wirbelt, beginnt das Geräusch des Schusses widerzuhallen, dann die Schreie meiner Mutter und der Lärm von Sirenen und Walkie-Talkies, Sanitätern und Polizisten. Mein Vater ist in jener Nacht gestorben, aber in mir hat etwas zu wachsen begonnen. Zuerst habe ich es gehegt und gepflegt, doch dann habe ich die Kontrolle darüber verloren, und es ist zu etwas herangewachsen, das ganz aus sich selbst heraus existierte: eine tobende Bestie in mir, die mich beinahe von innen heraus verschlungen hat.
    »Leb wohl«, sage ich zu meinem Vater, und ich berühre noch einmal sein Gesicht, und er beugt sich zu mir vor, ganz nah. Ich kann spüren, wie seine Lippen ihren Abdruck hinterlassen. Dann wird sein Gesicht gemein und hässlich, und ich kann seinen Atem auf meiner Nasenspitze fühlen.
    Ich öffne die Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde blicke ich in die gelben Augen des Wolfes. Dann plötzlich, zack! Der eisige Wind fährt mir ins Gesicht, und ich schrecke auf.
    Ich bin durchgefroren und atme heftig. Mein Traum steckt mir noch tief in den Knochen.
    Ich stehe auf, greife nach meinem Wanderstock und schaue flussaufwärts und flussabwärts. Von dem Wolf keine Spur. Es war nur ein Traum, Jane. Der Wolf ist nicht realer als dein Vater. Lass sie beide gehen.
    Ich drehe mich um und wende mich, den Wind im Rücken, flussabwärts. Die Wanderung am Flussbett entlang ist der einfachste Marsch seit meinem Aufbruch. Das ist auch gut so, denn mein Körper lässt mich jetzt mehr und mehr im Stich. Alle dreißig, vierzig Meter muss ich mich hinknien und Kraft sammeln. Schließlich spüre ich, belebt durch den Wind, der mich vorwärtstreibt, ein wenig neue Energie in mir aufsteigen. Ich denke an Pauls letzte Kletterpartie zum Gipfel hinauf, und wie er an diesem Tag wieder Lebenskraft geschöpft hat, kurz bevor sich sein Zustand dann rapide verschlechterte.
    Ist er noch am Leben? Wie könnte er das sein? Aber er muss einfach noch leben. Gib ihn nicht auf. Meine Gedanken wenden sich den Menschen zu, die mich nie aufgegeben haben: Meiner Mutter, Old Doctor, den Krankenschwestern, einigen der anderen Bewohner von Life House, wie Ben. Ich erinnere mich an einen Tag in der Klinik: Es war einer meiner Tiefpunkte, vielleicht zwei, drei Monate nach meiner Einlieferung. Ich blickte auf den verschneiten Hof hinaus. Ich dachte daran, wie wunderbar Schnee für ein Kind ist. Schlitten fahren, Schneemänner, Schneeballschlachten. Und das muss mich traurig gemacht haben, denn mir rannen Tränen übers Gesicht, und Ben kam zu mir und setzte sich. Er sagte nicht viel, bot mir aber eine Zigarette an. Und obwohl ich nicht rauchte, habe ich ihn in den Hof hinausbegleitet. Als er fertig war, meinte er: »Alles, was ich mir anschaue, hat das Zeug dazu, mich traurig zu machen.«
    »Ich liebe den Schnee«, antwortete ich. »Doch er macht mich traurig.«
    »Ja. Mich macht er auch traurig«, gab Ben zu.
    »Er lässt mich meinen Vater vermissen. Wir haben im Schnee gespielt – ich denke immer noch viel daran.«
    Dann tat er etwas, bei dem mir die Kinnlade herunterklappte, aber jetzt begreife ich, dass es vielleicht die großartigste Geste war, die mir in Life House je begegnet ist. Er zog seine Hosen runter und pinkelte seinen Namen in den makellosen, weißen Schnee.
    »Jetzt wirst du an mich denken.«
    Ich musste lachen. Und selbst jetzt lässt es mich lächeln.
    Mein Schritt festigt sich, und ich folge dem Fluss, bis er eine weite Schleife zurück zu dem Gebirgszug beschreibt, den ich Tage zuvor verlassen habe. Es ist so einfach, am Fluss entlangzugehen und gedankenlos seinem Weg zu folgen. Aber ich spüre, wo die Sonne steht, und ich weiß, wohin der Fluss fließt. Ich kann nicht dorthin zurückkehren. Ich bleibe stehen, schaue über den Fluss und wäge meine Möglichkeiten ab. Soweit ich von hier aus sehen kann, ist hinter dem Strauchwerk am Flussufer nichts als offenes Grasland. Soll ich den Fluss überqueren und riskieren, allen Launen des Wetters schutzlos ausgeliefert, mitten in dieser endlosen Weite zu sterben? Oder soll ich einem Fluss zurück in eine Welt folgen, von der ich weiß, dass dort der sichere Tod auf mich wartet?
    Mein Blick schweift suchend über die

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