Survive
Eingangshalle. Nachdem ich den um meinen Hals hängenden Ausweis für den Bus vorgezeigt habe, stelle ich mich hinter vier Patienten aus der Suchtstation an, von denen ich keinen kenne. Es ist fünf vor zwölf, und der Bus steht bereits mit laufendem Motor vor der Anstalt. Ich verabscheue das alles.
Es ist ein kurzer, gelber Bus, mit den Worten LIFE HOUSE in großen Blockbuchstaben an der Seite. Sie hätten genauso gut IRRENHAUS schreiben können, nur um sicherzustellen, dass auch jeder, der uns in der Stadt sieht, weiß, wer wir sind. Wir steigen in den Bus, wie es sich für mit Medikamenten ruhig gestellte Zombies gehört, und schauen überallhin, nur nicht einander an. Eine Betreuerin hakt unsere Namen auf einer Liste ab, und der Busfahrer legt den Gang ein.
Ich schaue auf meine Uhr: Drei Stunden und siebenundfünfzig Minuten bis zum Abflug. Ich schließe die Augen und stelle mir diesen milchig blauen Himmel über der Erde vor. Fast geschafft, Jane.
Als ich aus dem Bus steige, blicke ich wieder auf meine Uhr. Es ist erst zwanzig nach zwölf, also habe ich gut vierzig Minuten Zeit, bis der Flughafenbus abfährt. So weit, so gut – jedenfalls in puncto Zeit.
Die braven Stadtbewohner von Powder River starren uns an, als seien wir Deppen. Wer würde das auch nicht tun? Da kommt eine Busladung halbwüchsiger Spinner in deine Stadt gefahren, um ein paar kleine Weihnachtseinkäufe zu machen und etwas Spaß zu haben – klar, dass einem da die Kinnlade herunterfällt.
Ich stehe einige Sekunden lang bloß da, vorübergehend unsicher geworden. Die Betreuerin, sie heißt May, bemerkt meine Unentschlossenheit.
»Jane, Ihr Bus sammelt Sie in ungefähr dreißig Minuten genau hier ein. Ist alles in Ordnung? Wollen Sie, dass ich hier mit Ihnen warte?«
»Nein«, antworte ich. Dann: »Ich will meiner Mutter ein Geschenk kaufen, aus Powder River.«
»Möchten Sie, dass ich Sie begleite?«
Ich schüttele den Kopf. »Das geht schon. Habe ich genug Zeit?«
»Ich glaube schon. Sie sollten sicherheitshalber in zwanzig Minuten zurück sein.« Sie hält inne, dann fährt sie fort: »Sie sehen sehr besorgt aus, Jane. Sind Sie sich sicher, dass alles in Ordnung ist? Ich glaube, Ihre Mum wird es verstehen, wenn Sie diesmal nichts für sie haben.«
»Mir geht es gut«, murmele ich. »Ich will auch eine Krawatte für meinen Vater kaufen.« Sie ist nur eine externe Betreuerin; sie weiß nicht, dass mein Vater sich an Heilig Abend eine Kugel in den Kopf gejagt hat, daher fällt die Lüge nicht auf. Aber was ist, wenn sie es Old Doctor oder einer von den Krankenschwestern erzählt, die mich kennen? Merke: Du wirst leichtsinnig. Halte dich gefälligst an den Plan.
»Einige Häuserblocks weiter ist an der Ecke Lila’s Vintage «, sagt sie. »Sie sollten dort Krawatten haben. Ich gehe am besten mit.«
»Danke, aber ich komme schon zurecht, wirklich.«
Sie sieht mich an, und im Geiste überschlägt sie wohl alles, was schiefgehen könnte, und wägt es gegen das ab, was an Weihnachten zu tun gut und richtig ist.
»In Ordnung, aber Sie haben nicht viel Zeit. Seien Sie vorsichtshalber lieber schon in fünfzehn Minuten wieder zurück.«
Ich nicke, drehe mich in den schneidend kalten Wind und setze mich in Bewegung. Schneematsch, Salz und Sand bedecken den Gehweg, die eisigen Temperaturen haben alles in eine spiegelglatte Fläche verwandelt. Trotz der Kälte wandern Menschen umher und begutachten die Schaufenster, und etwa ein Dutzend Kinder von einem ortsansässigen Chor haben sich vor dem Rathaus versammelt, um Weihnachtslieder zu singen. Vor dem Chor ist ein Ständer aufgebaut, von dem ein altmodischer schwarzer Topf herabhängt. Kleine Kinder werfen abwechselnd die Münzen ihrer Mütter hinein.
Ich spüre noch immer den Blick der Betreuerin im Rücken, darum drehe ich mich um, aber sie ist verschwunden. Wo ist sie hingegangen? Sie ruft nicht in der Anstalt an. Sei nicht paranoid. Ich begutachte die Straßenecken, an denen ich vorbeigekommen bin, ganz genau. Nichts. Sie ist einkaufen. Wie alle anderen. Bloß nicht ausflippen, Jane.
Ich stemme mich gegen den Wind, gehe an der Tür zu Lila’s Vintage vorbei und hinein in Dowden’s Drugstore an der gegenüberliegenden Ecke. Ein alter Mann in einer kurzen weißen Apothekerjacke schaut von seinem Sitzplatz auf und schenkt mir ein flüchtiges Lächeln, bevor er sich wieder an sein Werk macht und Pillen zählt.
Ein FedEx-Kurier kommt mit den Händen voller Pakete durch den Hintereingang
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