Susan Andersen
sich im Dunkeln kurzfristig als Junge auszugeben, aber eine ganz andere, so etwas am helllichten Tag für wie lange auch immer durchzuziehen. Also würden die Jungs in jedem Fall erfahren, dass sie ein Mädchen war. Sie hatte so eine Ahnung, dass Danny G. es bereits wusste. Doch er war ein stiller verschlossener Typ, und sie glaubte nicht, dass er sie verriet. Henry hingegen würde ganz sicher das Maul aufreißen, bis jeder wusste, dass CaP kein Kerl war, wie alle vermuteten. Und dann würde der Muskelmann nicht länger nicht nach einem Mädchen suchen.
Falls er überhaupt nach jemandem suchte. Vielleicht machte sie sich vollkommen umsonst Gedanken. Vielleicht hatte er den richtigen Schluss gezogen – dass sie zu klug und vor allem zu verängstigt war, um irgendjemandem zu verraten, was sie gesehen hatte.
Trotzdem lief ihr ein Schauer über den Rücken. Denn das waren eine Menge Vielleichts.
Cory hatte das unangenehme Gefühl, dass die Geschichte noch lange nicht vorbei war.
Oben auf der Ave zog Bruno Arturo sein Handy aus der Tasche seiner Lederjacke. Während er zum Diamond-Parkplatz ging, um sein Auto zu holen, tippte er eine Nummer ein und rieb sich übers Kinn. Am anderen Ende der Leitung klingelte es.
Beim zweiten Klingeln wurde abgenommen. „Schultz.“
„Wir haben Probleme, Boss.“
„Das ist nickt das, was ich kören wollte. Was für Probleme?“
„Als wir in den Laden kamen, war da ein alter Mann.“
Sckultz’ Stimme klang kalt. „Wird er den Bullen etwas über die Kids erzählen können? Irgendjemanden identifizieren?“
„Im Moment nickt.“
„Dann verstehe ich nickt, warum wir Probleme haben.“
„Auf dem Dach nebenan war jemand. Ein Sprayer, glaub ich.“ Von denen hatte er auf seinem Weg zum Wagen einige entdeckt. „Ich glaube, er hat mein Gesicht gesehen.“ Bruno zündete sich eine Zigarette an, inhalierte den Rauch tief und blies ihn durch die Nasenlöcher wieder hinaus. „Ganz sicher jedenfalls hat er meine Waffe gesehen. Mit der habe ich nämlich auf ich geschossen.“
Sckultz schnaubte. „Was denkst du, wie alt er ist?“
„Keine Ahnung. Jung. Von der Sorte, die nur aus Armen und Beinen zu bestehen scheint. Ein schneller kleiner Mistkerl jedenfalls. Ist gerannt wie der Blitz.“
„Dann vergiss ihn. Wahrscheinlich scheißt er sich vor Angst in die Hosen. Der wird bestimmt keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, indem er quatscht. Und wir werden keine auffällige Jagd auf irgendeinen Jungen veranstalten. Warte ein paar Tage. Wenn wir nichts darüber kören, dass die Bullen nach einer Jugendgang suchen, belassen wir es dabei.“
„Meinen Sie?“
„Ja, Bruno, das meine ich“, erwiderte Sckultz mit dieser eisigen Stellst-du-mich-etwa-infrage?-Stimme, von der jeder, der mit ihm arbeitete, wusste, dass sie eine Warnung war.
„Okay.“
Als Bruno ein paar Minuten später in seinen Escalade kletterte, schmiedete er jedoch bereits Pläne. Sein Boss hatte leicht reden. Wenn der Junge zur Polizei ging und sich mit einem Phantombildmaler hinsetzte, war es schließlich nicht Schultzes Arsch, der auf dem Spiel stand.
Daher war er überhaupt nicht scharf darauf, es „einfach dabei zu belassen.“
Das Raubdezernat des Seattle Police Departments hörte ununterbrochen den Polizeifunk ab. So konnte es beispielsweise bei einem Banküberfall den in der Nähe patrouillierenden Streifenwagen Verstärkung schicken. Der Notruf am frühen Samstagmorgen hatte allerdings nichts mit einem Banküberfall zu tun. Trotzdem rief ein Kollege Jase an.
„Ich bin nicht mehr im Dienst, Blödmann“, knurrte er in den Hörer, als er gerade auf den Parkplatz vor seiner Wohnung einbog.
„Ja, tut mir leid“, sagte Hohn. „Aber ich dachte, du wüsstest gern Bescheid. Gerade ist noch ein Überfall auf einen Juwelier gemeldet worden. Ich fahr da jetzt hin.“
Jase fluchte. „Wo?“
„U District.“ Hohn nannte die genaue Adresse und erklärte ihm, dass er hinter dem Gebäude parken sollte.
„Bin in zehn Minuten da.“ Jase klappte das Handy rasch zu, fuhr rückwärts vom Parkplatz und knallte auf der Hauptstraße von Greenwood das LED-Blinklicht aufs Autodach. Kurz danach erreichte er bereits das Gebäude, vor dem gerade ein Rettungswagen wegfuhr und ein Streifenwagen mit kreisendem Polizeilicht und quäkendem Funkgerät parkte. Hohn nahm Jase in Empfang. Gemeinsam gingen sie zur Hintertür.
„Raubdezernat“, rief Hohn.
„Hier herein, Detective.“ Ein Polizist asiatischer
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