Susan Andersen
malen – egal, wie selten man eine so saubere Wand fand.
Also konnte sie genauso gut nach Hause gehen. In Anbetracht der Tatsache, wie sie ihren Samstag verbringen musste, wäre es ziemlich dumm, jetzt noch einmal zu hoch zu pokern. Außerdem würde ihre Mom in einer Stunde von der Arbeit kommen und ausflippen, wenn Cory erst nach ihr nach Hause kam.
Das Schuldgefühl überkam sie reflexartig, genau wie der Trotz, mit dem sie es beiseitewischte. Hey, immerhin blieb sie fast jeden Abend brav wie ein kleines Pfadfindermädchen zu Hause. Sie lernte sogar, damit sie den traurigen Ausdruck im Gesicht ihrer Mom nicht sehen musste. Den kannte sie noch sehr gut vom letzten Frühjahr, als ihre Zeugnisnoten wirklich zum Davonlaufen gewesen waren.
Aber an den Wochenenden war das etwas anderes. Die dehnten sich scheinbar endlos aus. Da musste ihre Mom nämlich gleich zwei Jobs erledigen, und sie waren erst vor ein paar Monaten von Philly hierher gezogen. Mitten im Jahr die Schule zu wechseln war wirklich beschissen. Cory würde zu gern wissen, wer in so kurzer Zeit Freundinnen fand, von diesen Cheerleadertypen einmal abgesehen. Die waren so fröhlich, dass man ihnen am liebsten ständig eine verpassen würde. Ein Mädchen wie sie hatte sich auch etwas Spaß verdient.
Aber seit dem Tod ihres Vaters hatte sie kaum noch Spaß gehabt.
Trauer schnitt hart und scharf durch die dicke Haut, die sie sich zugelegt hatte. Sie krümmte sich, die Arme schützend um den Bauch geschlagen. Mühsam richtete sie sich auf und wollte nur noch so schnell wie möglich weg.
Als sie zwischen den beiden Gebäuden hindurchschlüpfte, hörte sie Glas splittern. So nah, dass sie zusammenzuckte. Ein Schrei drang aus dem Laden nebenan, gefolgt von einem Schuss. Ein Geräusch wie aus ihren Alpträumen. Im dunklen Hauseingang des Zahnarztes erstarrte sie. Kalter Schweiß lief ihr über den Rücken.
Dann heulte eine Alarmanlage auf, und sie zwang sich, sich zu rühren. Vorsichtig tastete sie sich an der rauen Backsteinfassade entlang und suchte nach einer Möglichkeit, um auf das Dach zu flüchten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Ellbogen über den Dachrand des einstöckigen Hauses gestemmt und sich hochgezogen hatte. Dort blieb sie einen Moment lang auf dem Rücken liegen. Keuchend versuchte sie, ihren Herzschlag zu beruhigen. Dann rollte sie sich langsam auf den Bauch und krabbelte auf allen vieren zum hinteren Rand des Dachs, obwohl sie wusste, dass sie einfach hätte wegrennen sollen. Doch wieder einmal traf sie aus Unüberlegtheit und Neugier heraus eine schlechte Entscheidung.
Von ihrem Aussichtspunkt beobachtete sie, wie mehrere Jugendliche aus der Hintertür des Juweliers strömten. Also stimmten die Geschichten, die sie als reine Angeberei von ein paar Taggern abgetan hatte, offenbar doch: Es gab eine Jugendgang, die die Juweliere der Stadt überfiel. Aber da die meisten der Kids sogar ihr sehr jung vorkamen, konnte sie sich kaum vorstellen, dass sie selbst auf diese Idee gekommen waren.
Genau in diesem Moment rannte ein Mann hinter den Kindern aus dem Haus. In seinem Hosenbund steckten eine Pistole und etwas, das nach einer schwarzen Kapuze aussah. Er blieb im schwachen Licht der Lampe über der Tür stehen, doch wegen seines breitkrempigen Huts konnte sie ihn nicht erkennen. Was Cory nur recht war, denn sie hatte schmerzhaft lernen müssen, dass zu viel Wissen einen umbringen konnte.
So war es ihrem Vater ergangen.
„Bewegt eure Arsche“, fauchte der Mann. Die Kids zerstreuten sich in sechs verschiedene Richtungen. „Scheiß Anfänger“, fluchte er, zündete sich eine Zigarette an und drückte sich von der Tür ab.
Ganz kurz erleuchtete die Flamme eines Zippos sein Gesicht.
Cory kannte ihn. Nun, sie kannte ihn nicht wirklich, aber sie wusste, wer er war. Der Mann galt als Handlanger eines großen Gangsterbosses. An seinen Namen konnte sie sich jedoch nicht erinnern. Aber sie wusste, dass er einen sehr schlechten Ruf hatte. Und auf gar keinen Fall wollte sie seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Schon gar nicht, nachdem er gerade auf jemanden geschossen hatte.
Doch ohne es zu merken, musste sie ein Geräusch von sich gegeben oder sich bewegt haben, denn als der Muskelprotz durch die Gasse zwischen den beiden Gebäuden lief, sah er plötzlich hoch.
Mitten in ihr Gesicht.
Da Corys Herz einen Moment aussetzte, glotzte sie ihn einfach nur an. Als sie jedoch sah, wie seine Hand zum Hosenbund wanderte, löste sich ihre
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