Susan Andersen
alten Fliederbaum. Dann sah er Emilia an, deren Blick zwischen Darnell und Freddy hin und her flog. „Könnten Sie Ihren Freunden vielleicht ein Glas Wasser oder so etwas bringen?“
Erleichtert darüber, etwas zu tun zu haben, rannte sie zur Hintertür.
„Okay, fangen wir mit etwas Leichtem an. Warum waren Sie in der Hütte?“, richtete Jase sich wieder an die Jungen.
Die Jungen erzählten, dass Freddy ein Versteck gebraucht und Emilia sie ins Haus gelassen hatte, als ihre Eltern bei der Arbeit waren. Später seien sie noch einmal ins Haus gekommen, da Emilias Eltern zum Abendessen bei ihrer zweiten, verheirateten Tochter eingeladen waren.
„Also waren Sie im Haus, als Ms. Calloway und ich ankamen?“
Darnell richtete sich auf. Er blickte zur Küche, in der Emilia verschwunden war, dann sah er Jase an. „Sie bekommt doch deshalb keinen Ärger, oder?“
„Nein. Bisher habe ich noch nicht den Eindruck, dass irgendjemand etwas Illegales getan hat.“
Beruhigt nickte der Junge. „Okay, ja. Wir waren in der Küche, sind aber durch die Hintertür raus, als es klingelte.“
Jase wandte sich an Freddy. „Wer hat Sie verprügelt?“
„Ich hatte eine Meinungsverschiedenheit mit meinen Kumpels.“
„Und worum ging es bei der Meinungsverschiedenheit?“
In seinen Augen spukten dunkle Schatten. „Ich will aussteigen. Aber die stehen nicht auf Aussteiger.“
Scheiße. Das war nicht gut. Jase dachte an die Geschichten seiner Kollegen, die mit Gangs zu tun hatten, und begann fieberhaft nachzudenken. Das Elternhaus des Jungen war ihm nicht gerade idyllisch erschienen, und er bezweifelte, dass seine Mutter ihn mit Zuneigung überschüttete. Er versuchte, die Verletzungen des Jungen abzuschätzen. „Wie schlimm sind Sie verletzt?“
Ein Schulterzucken. „Ich werd’s überleben.“
Um ganz sicherzugehen, fragte Jase nach Knochenbrüchen und ob er doppelt sehe oder Blut pinkele. Als der Junge verneinte, holte er tief Atem. „Haben Sie Verwandte außerhalb von Seattle?“
Eine Sekunde lang flackerte Hoffnung in Freddys Augen auf, erstarb aber sofort wieder, und Jase dachte, dass vermutlich wenige Hoffnungen dieses Jungen jemals in Erfüllung gegangen waren. „Hab ’nen Onkel in Alabama.“
„Wie heißt er?“
„Conrad Gordon.“
„Der Bruder Ihres Vaters, wie?“ Als Freddy nickte, fragte er sanft: „Haben Sie mal daran gedacht, ihn anzurufen?“
„Ja. Aber ich hab kein Geld für’n Ferngespräch, und bei meinem Handy ist der Akku leer.“
„Ich hab ein Telefon. Warum geben Sie mir nicht die Nummer, und ich werde sehen, was ich tun kann?“, schlug Jase vor.
Die Hoffnung leuchtete nun stärker in seinem Gesicht auf, bevor Freddy sie erneut unterdrückte. Die Telefonnummer seines Onkels kannte er auswendig, er ratterte sie herunter, ohne eine Sekunde überlegen zu müssen.
Jase schrieb sie in sein Notizbuch, sah auf die Uhr und stellte fest, dass es in Alabama spät genug war, um vielleicht jemanden zu Hause zu erwischen.
„Poppy, geben Sie doch Darnell Ihr Handy, damit er seine Grandma anrufen kann“, meinte er. Dabei taxierte er sie einen Moment, erstaunt über die Zurückhaltung, die sie seit ihrer Ankunft an den Tag legte. Er hätte erwartet, dass sie vorpreschen und das Gespräch mit den Jungs übernehmen würde. Aber von einem kurzen Moment abgesehen, hatte sie sich aus der ganzen Angelegenheit herausgehalten. Dann konzentrierte er sich wieder und ging einmal quer durch den Garten, um das Telefongespräch zu führen.
Als Polizist erwartete er immer das Schlimmste von den Menschen. Darum wollte er außerhalb von Freddys Hörweite sein, falls sein Onkel ablehnte. Zwar musste er den Jungen so oder so darüber informieren, aber dann blieb ihm wenigstens eine Minute Zeit, um die richtigen Worte dafür zu finden.
Verdammt, dabei sollte er das gar nicht tun. Der Junge war noch nicht volljährig, und egal, was er von dessen Mutter hielt, seine Aufgabe war es, Freddy zu ihr zurückzubringen.
Aber zum ersten Mal in seinem Leben war ihm das egal. Der zynische Teil von ihm bezweifelte zwar, dass der Teenager sein märchenhaftes Happy End bekam, aber zumindest konnte er versuchen herauszufinden, ob irgendjemand bereit war, Verantwortung für ihn zu übernehmen.
Freddys Onkel Conrad überraschte ihn. Nachdem er Jase zugehört hatte, sagte er, dass er geahnt hatte, wie schlecht es bei seinem Neffen lief. Er gab zu, dass er längst etwas hätte unternehmen sollen, aber zu viel um die Ohren gehabt
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