Susan Andersen
genauso gut seine Pistole ausleihen und sich den kleinen Zeh wegschießen. Das wäre schneller und weniger schmerzhaft, als sich noch einmal eine solche Blöße zu geben.
„Komm, warum lehnst du dich nicht an mich?“
„Danke, mir geht’s gut.“
Also ergriff er nur sanft ihren Ellbogen. Zwar warf er dem uralten Aufzug einen zweifelnden Blick zu, dirigierte sie aber trotzdem in seine Richtung. Er öffnete sich sofort, weil fast niemand in dem Gebäude ihm traute und er daher bereits im Erdgeschoss stand.
Und sie hätte ihm auch nicht trauen sollen. Aber es war zu spät, also stieg sie ein und versuchte, so viel Abstand wie möglich zu Jase zu wahren. Was völlig sinnlos war, da der Aufzug ungefähr die Größe eines Besenschranks hatte.
Poppy hatte das Gefühl, dass die zweifache Begegnung mit ihrer eigenen Sterblichkeit sie hypersensibel gemacht hatte. Okay, das mit der Sterblichkeit war vermutlich etwas übertrieben, sie war mit einer Leiter umgefallen und einmal von einem 50 Kilo leichten Mädchen umgeworfen worden, während eine Tonne kreischendes Metall auf sie zuraste.
Andererseits: eine Tonne kreischendes Metall.
Vielleicht übertrieb sie doch nicht.
Doch es mussten Unfälle gewesen sein. Auch wenn Jason nicht an Zufälle glaubte, sie kannte niemanden, der sie dermaßen hasste.
Der Fahrstuhl kam wackelnd zum Stehen, und die Türen öffneten sich. Jason begleitete sie zu ihrer Wohnung, nahm ihr die Schlüssel ab und sperrte die Tür auf.
„Möchtest du etwas zu trinken oder eine Aspirin oder so was?
„Das mache ich schon. Du musst nicht bleiben, Jason. Ich gehe unter die Dusche und lege mich dann wahrscheinlich hin. Meine Eltern rufe ich später an.“
„Geh du doch schon mal unter die Dusche“, sagte er, „während ich mich darum kümmere, dass du hier in deiner Wohnung sicher bist.“
„Okay.“ Vor dem Badezimmer blieb sie kurz stehen, um ihn anzusehen. „Danke. Dass du mich nach Hause gebracht hast und ... naja, für alles.“
Ihre Blicke trafen sich einen Moment. Und wie immer begann ihre Libido Funken zu schlagen, während er schlicht sagte: „Kein Problem.“
Sie ging ins Badezimmer, verschloss die Tür und nahm ein paar Aspirin aus einem Fläschchen, die sie mit Unmengen von Wasser herunterschluckte. Nachdem sie sich ausgezogen hatte, stieg sie in die Dusche und drehte das Wasser so heiß auf, dass große Dampfwolken durch den Raum waberten.
Zehn Minuten später fühlte Poppy sich auf eine Weise sauber, die tiefer ging und nicht nur etwas mit dem Schmutz des Parkplatzes und des Gehsteigs zu tun hatte. Sie schlang ein Handtuch um ihr frisch gewaschenes Haar, trocknete sich ab und tupfte Wundsalbe auf die Abschürfungen. Als sie sich von Kopf bis Fuß eingecremt hatte, fühlte sie sich wieder halbwegs menschlich. Vielleicht konnte sie diese Transformation mit einem Glas Wein abrunden und dann ihre Mom anrufen.
Im Flur war es kühl im Vergleich zum dampfenden Badezimmer. Sie zog den Reißverschluss ihres abgetragenen Lieblingskapuzenshirts über dem weißen Tanktop zu. Dazu trug sie passende, ausgewaschene graue Jogginghosen. Einen Moment überlegte sie, zurück ins Badezimmer zu gehen, um Socken überzustreifen.
Erst der Wein, beschloss sie, dann die Socken. Sie ging ins Wohnzimmer.
Und blieb wie angewurzelt stehen, als sie Jason ausgestreckt auf ihrer Couch liegen sah. Er hatte die Schuhe ausgezogen, sein Kopf ruhte auf einem Kissen. Ein langes Bein war auf das Ende der Lehne abgestützt, das andere in einem Winkel über den Rand gerutscht, sodass der Fuß auf dem Boden stand. Und sie sehen konnte, dass er Linksträger war.
Hastig lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder weiter nach oben. Er hatte einen Arm über die Augen gelegt. Vorsichtig ging sie zu ihm. Schlief er?
Offensichtlich nicht, denn als sie fast bei ihm war, hob er den Arm und sah zu ihr. Sein Blick wanderte von ihrem Frotteeturban zu den nackten Zehen und wieder hinauf. „Du siehst aus, als ob es dir besser geht.“
„Was machst du hier?“ Verdammt, die Dusche hatte geholfen, diese verwirrende und unwillkommene Mischung aus Lust und Verärgerung abzuwaschen, die sie in der Nähe dieses Mannes immerzu verspürte. Doch jetzt, wo er so dalag mit den hochgekrempelten Ärmeln, der gelockerten Krawatte, der gefährlichen Waffe und den noch gefährlicheren Augen, überwältigte sie dieses Gefühl heftiger denn je. Sie stopfte die Fäuste in die tiefen Taschen ihrer Kapuzenjacke.
„Du hast doch nicht wirklich
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