Susanne Barden - 03 in New York
Straßen.«
Die Worte waren einfach, anspruchslos, unpathetisch, aber dahinter standen fünfundzwanzig Jahre unermüdlicher schwerer Arbeit in überfüllten Mietshäusern - fünfundzwanzig Jahre mühseliger Märsche durch verschneite Straßen im Winter, durch erstickende Hitze im Sommer, bis die Reihe der Jahre schließlich zu einer erinnerungsreichen Vergangenheit geworden war.
»Sie - haben - ein reiches Leben gehabt«, stammelte Susy ergriffen.
»Gewiß«, antwortete Fräulein Kirmer ruhig.
Während Susy sie bei der Arbeit beobachtete, kam sie sich selber dumm und ungeschickt vor. Fräulein Kirmer machte keine Bewegung nutzlos. Ihren Augen entging nichts. Sie sah alles, während sie mit den Leuten sprach, als gehörte sie zu ihnen. Sie interessierte sich lebhaft für junge Hunde, Radioapparate und neue Wäschekörbe. Sie verstand es, ein Lächeln auf stumpfe alte Gesichter zu zaubern. Sie wußte von jedem Kind, ob es artig oder unartig war. Sie wußte, welche Familienmitglieder im Gefängnis saßen, warum sie dort waren, und wann sie entlassen werden würden. Aber sie predigte nicht und moralisierte nicht. Was geschehen war, war geschehen. Ihre Aufgabe bestand darin, gegenwärtige Schwierigkeiten aus dem Weg räumen zu helfen. Sie mußte dem kleinen John den Bock austreiben und Arbeit für den Mann finden, wenn er aus dem Gefängnis kam. Ob es sich nun darum handelte, einen Betrunkenen zurechtzuweisen oder einen Gasherd in Ordnung zu bringen - Fräulein Kirmer fand immer irgendeine Lösung.
Ein Besuch prägte sich Susy besonders stark ein. Es war weder ein besonders wichtiger noch ein ungewöhnlicher Fall. Vielleicht behielt Susy ihn deswegen so gut in der Erinnerung, weil er ihr so typisch für die Art und Weise erschien, in der Fräulein Kirmer sich
der Kümmernisse anderer Menschen annahm.
Es handelte sich um junge Eheleute, die ihr erstes Kind erwarteten. Von einer in der Nähe ihrer Wohnung liegenden Klinik war bei der Henry-Street-Stiftung angerufen und gebeten worden, sich der jungen Frau ein wenig anzunehmen.
Susy und Fräulein Kirmer kletterten zum vierten Stock eines vernachlässigten Hauses hinauf. Die junge Frau war erst neunzehn Jahre alt, eine untersetzte Italienerin mit dunklen Augen und krausem, schwarzem Haar. Ihr Mann, auch ein Italiener, war dagegen auffallend blond, hatte blaue Augen und trug einen kleinen Schnurrbart. Er wusch gerade Wäsche, als die beiden eintraten. »Ich konnte unmöglich zulassen, daß meine Frau es tut«, erklärte er ernst. Er hatte keine Arbeit, aber obwohl sie mit der Miete im Rückstand waren, ließ der Hauswirt sie einstweilen wohnen. Nein, er bezog keine Unterstützung, antwortete er auf die Frage von Fräulein Kirmer. Er hoffe immer noch, Arbeit zu bekommen. Hin und wieder arbeitete er ein paar Tage als Aushilfe.
Fräulein Kirmer sprach mit der jungen Frau über ihre Vereinbarungen mit der Klinik, gab ihr ein paar nützliche Ratschläge und erkundigte sich schließlich nach den Kleidern für das Baby. Die Eheleute schwiegen verlegen.
»Zeigen Sie doch mal her, was Sie haben«, forderte Fräulein Kirmer sie auf.
Die jungen Leute sahen sich an und blickten dann wieder fort. Schließlich stammelte die junge Frau: »Ich - wir haben nicht viel anschaffen können.«
Es stellte sich heraus, daß die ganze Ausstattung aus vier Windeln bestand. Nachdem Fräulein Kirmer sie gesehen hatte, dachte sie einen Augenblick schweigend nach. Dann kramte sie in ihrer Tasche, holte einen Notizblock heraus und schrieb etwas auf.
»Gehen Sie damit zum Kinderhort«, sagte sie zu dem jungen Ehemann, indem sie ihm das Blatt Papier reichte. »Ich war zufällig heute morgen dort und sah eine ganze Babyausstattung in einem Schrank liegen.« Sie lachte freundlich. »Ich dachte mir gleich, daß jemand sie eines Tages gebrauchen könnte. Die Wäsche ist reizend, und es ist alles da, was Sie brauchen - Kleidchen, Jäckchen, Höschen, Strümpfchen, außerdem etwa zwei Dutzend Windeln. Sie haben zwar schon Windeln, können aber gut noch ein paar gebrauchen. Sagen Sie nur, daß ich Sie geschickt habe.«
Die beiden starrten sie ungläubig an. Schließlich räusperte sich die junge Frau. »Kleidchen?« stotterte sie. »Jäckchen - und Mütz- chen?«
Das ernste Gesicht ihres Mannes strahlte auf, und er lächelte seiner Frau mit solcher Zärtlichkeit zu, daß Susy Tränen in die Augen traten. »Freuen Sie sich auf das Kind?« fragte sie, um ihre Rührung zu verbergen.
Die beiden jungen
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