Susanne Barden 04 - Weite Wege
Schwestern hatten ihn festhalten müssen, bis die Tür sich hinter der Mutter geschlossen hatte. Dann war er nach einem letzten Schluchzer verstummt und hatte sich die Schwestern angesehen. »Hallo!« hatte er, noch mit Tränen in den Augen, aber schon wieder lachend, gesagt. Susy riß sich gewaltsam aus ihren Gedanken, schlüpfte in ihr Kleid und knöpfte es zu, während sie die Treppe hinunterlief.
Nach dem Frühstück packten die Mädchen, und um zwölf Uhr war das Chaos in Susys Zimmer bis auf einige Reste beseitigt. Die Mädchen aßen eine Kleinigkeit in der Küche, ohne sich hinzusetzen. Ihr fröhlicher Ton klang zuweilen etwas gezwungen, aber sie taten, als bemerkten sie es nicht. Sie sprachen hauptsächlich davon, daß Kit und Marianna bald nach Winslow gehen würden.
»Wenn wir doch schon jetzt hinfahren könnten!« meinte Kit. »Etwas mehr Arbeit als Henry-Street-Schwester kann mir auch nichts schaden.«
»Schließlich bin ich auch noch da«, brachte sich Marianna in Erinnerung. »Ich muß erst mit der Schule durch sein, ehe ich Schwester werden kann.«
»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte Susy. »Und wenn ihr erst mal in Winslow seid, können wir uns oft sehen.«
Sie erzählten sich immerfort das gleiche. Es würde bestimmt herrlich werden. Susys Brillantring blitzte bei jeder Bewegung ihrer schlanken Hände. Marianna starrte wie gebannt auf den schönen, funkelnden Stein, aber sie sagte nichts mehr von Unglück und bösen Vorzeichen.
Schließlich bestellte Kit telefonisch eine Taxe. Es gab noch ein hastiges Hin und Her. Dann wurden die Koffer verladen, und die Mädchen zwängten sich in den nach kaltem Zigarrenrauch riechenden Wagen. Einen letzten Blick warf Susy auf das kleine Haus zurück, dann fuhren sie los. Jetzt blieben nur noch ein paar Minuten auf dem Bahnhof bis zum endgültigen Bruch mit ihrem alten Leben.
Aber diese Minuten wurden doch schwerer, als sie gedacht hatte. Sie lehnte sich aus dem Fenster ihres Abteils und blickte in die zu ihr empor gewandten Gesichter der Freundinnen. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, daß nichts Besonderes an diesem Abschied sei. Wie oft hatte Kit sie schon zur Bahn gebracht! Manchmal war auch Connie dabeigewesen; jetzt standen Kit und Marianna am Zuge. Aber diesmal war es doch ganz anders. Connie mußte auch so empfunden haben, als sie sich entschlossen hatte zu heiraten.
Für einen Augenblick verschwand der rauchige, von Lärm erfüllte Bahnhof für Susy. Sie sah das Wohnzimmer im Schwesternhaus der Krankenanstalt vor sich, in der sie ihre Lehrzeit verbracht hatte. An einem Abend vor zwei Jahren war die ganze alte Bande von Schwestern dort versammelt gewesen. Alle waren voller Zukunftspläne gewesen und hatten aufgeregt durcheinander gesprochen. Nur Connie hatte kein Wort gesagt und mit sonderbar glänzenden Augen von einem zum andern gesehen. Jetzt verstand Susy diesen Blick.
»Na, zunächst sehen wir uns ja bei deiner Hochzeit«, sagte Kit.
Susy lachte ein wenig gezwungen. »Wenn Bill nicht vorher kalte Füße bekommt und mich am Altar stehenläßt!« Sie wandte sich an Marianna, die sie ganz entsetzt anstarrte. »Schreibe mir, mit welchem Zug ihr eintrefft, Marianna, und sorge dafür, daß Kit nicht zu spät kommt.«
»Ich werd schon aufpassen«, versprach Marianna ernst.
Endlich waren die letzten Minuten vergangen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Die Abschiedsgrüße gingen in dem zunehmenden
Lärm unter. Kit und Marianna winkten mit ihren Taschentüchern. Susy sah sie kleiner und kleiner werden, bis sie schließlich nur noch zwei kleine Punkte waren. Sie zog den Kopf ins Abteil zurück und sah sich dem Schaffner gegenüber. Erstaunt hörte sie sich mit etwas belegter Stimme »hallo!« sagen.
Ein Sturm droht
Wie gut, daß sich zu Hause niemals etwas veränderte! Alles war so, wie es immer gewesen war, solange Susy zurückdenken konnte. In der Küche sang Mary mit mehr Lautstärke als Wohlklang, während sie die Teller vom Mittagessen abwusch. Dazwischen ertönte das Läuten einer Glockenboje im Hafen. Hinter dem mit Schnee zugedeckten Garten der Bardens strömte der Fluß zwischen vereisten Ufern dahin. Darüber segelten schreiend weiße Möwen. Der Himmel war grau und verhangen. »Du kannst nicht treu sein ...« schrillte Marys Stimme.
Frau Barden seufzte ein wenig. »Wenn sie doch einmal etwas anderes singen wollte!« Dann blickte sie zum Fenster hinaus. »Ich fürchte, es gibt Sturm. Der schiefergraue Himmel
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