Susanne Barden 04 - Weite Wege
sagst, Mammi. Ich dachte mir, daß es sich lohnen müßte, aber wenn man erst anfängt, weiß man es doch nicht so genau.«
Die beiden wechselten einen langen Blick, zum erstenmal nicht als Mutter und Tochter, sondern von Frau zu Frau. Es war ein Blick gegenseitigen Verstehens.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Frau Barden beruhigend. »Notfalls kann Bill ja mit dem Zug fahren, und das wird er auch tun, wenn die Straßen unpassierbar sind.« Sie hob sich auf die Zehenspitzen, küßte Susy und ging aus dem Zimmer.
Susy wandte sich zum Fenster zurück. Der Schnee fiel jetzt so dicht wie eine weiße Decke. Sie konnte kaum noch den Fluß sehen. Der Wind nahm ständig zu und wirbelte die dicken Flocken durch den verödeten Garten. Susy preßte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Ohne sich dessen bewußt zu sein, drehte sie ihren Verlobungsring unaufhörlich um ihren Finger.
Der Sturm bricht los
Es wurde ein wilder Schneesturm; er tobte die ganze Nacht hindurch und brachte Ereignisse ins Rollen, die - so geringfügig sie ihr anfangs auch schienen - Susys Leben noch beeinflussen sollten, nachdem der Sturm selber längst vergessen war. Unterdessen kroch unaufhaltsam ein dunkler, drohender Schatten auf Susy zu. Sie aber schlief friedlich und ahnungslos.
Beim Morgengrauen kam Dr. Barden zurück. Susy hörte im Halbschlummer die Mutter nach unten gehen und dann Stimmengemurmel in der Küche - dazwischen wie immer das dünne Läuten der Glockenboje. Behaglich seufzend drehte sie sich auf die andere Seite und schlief weiter. Als sie endlich erwachte, war es heller Tag. Der Sturm hatte sich ausgetobt. Große vereinzelte Schneeflocken segelten wie weiße Federn durch die stille Luft. Das Haus war von hohen Schneewehen umgeben, und in den unteren Räumen herrschte ein seltsames Zwielicht. Draußen waren alle vertrauten Gegenstände verschwunden. Schaute man aus dem Fenster, so sah man nur weißen Schnee und einen silbergrauen Himmel.
Susy wollte eigentlich Ski laufen, aber ihre Skier standen auf dem Boden und mußten wahrscheinlich gewachst werden. Ehe sie es sich versah, war der Vormittag vergangen. Gegen Mittag schien plötzlich der ganze Himmel herunterzukommen. Unaufhörlich und lautlos fiel der Schnee auf die Erde. Von keinem Windhauch bewegt, senkte er sich als ein großer weißer Vorhang über die weißen Dächer und Bäume. Es schneite den ganzen Nachmittag hindurch bis zum Abend, und als die kleine Familie um elf Uhr nach oben ging, um sich schlafen zu legen, schneite es immer noch.
Susy, die den ganzen Tag wie benommen umhergegangen war, wurde jetzt plötzlich hellwach. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, sich in den Schlaf zu lesen, stand sie schließlich auf, zog einen warmen Morgenrock und Pantoffeln an und ging in die Küche hinunter, um sich ein Glas warme Milch zu holen - ein beliebtes Mittel aller Krankenschwestern gegen Schlaflosigkeit. Mit dem dampfenden Glas in der Hand wanderte sie ins Wohnzimmer. Da das Feuer im Kamin noch glimmte, legte sie einen Holzkloben auf, setzte sich in Vaters Lehnsessel und wärmte sich die Füße. Sie hatte kein Licht im Zimmer gemacht. Als der Holzklotz aufflammte, erhoben sich die Schatten aus den Zimmerecken und tanzten über Wände und Möbelstücke. Funken sprühten, und dem Kamin entströmte ein feiner Duft von Herbstwäldern. Draußen wisperte der Schnee gegen die Fensterscheiben, und aus der Ferne ertönte das Läuten der Glockenboje.
Susy wurde schläfrig. Behaglich in den Sessel gekuschelt, dachte sie an die Freundinnen. Marianna lag jetzt wahrscheinlich in Susys Bett und schlief. Oder vielleicht waren sie und Kit noch nicht nach oben gegangen. Und Connie, die kleine, vor Glück übersprudelnde Connie, wohnte mit Phil in dem neuen Haus in Boston, das er gekauft hatte. Susy hatte es noch nicht gesehen und versuchte sich vorzustellen, wie es aussah.
Ein leises Geräusch, das von draußen kam, ließ sie aufhorchen. Sie fühlte es mehr, als daß sie es hörte - ein kaum wahrnehmbares Beben des Bodens, ein fast lautloses, durch den Schnee gedämpftes Tappen. Plötzlich war alle Schläfrigkeit wie weggeblasen. Susys Körper spannte sich in unerklärlicher Vorahnung. Bill! Ihr Verstand sagte ihr, daß er es nicht sein konnte. Gewiß war ein fremder Autofahrer im Schnee steckengeblieben und wollte bei ihnen telefonieren. Oder jemand kam, um Dr. Barden zu einem Kranken zu holen. Ja, so mußte es sein.
Susy saß reglos da und horchte. Schleppende Schritte
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