Sweet about me
mich hinaus. Die Domglocken, das Leuchten des Weihnachtsmarkts. Nach dem winterlichen Herbst war der Vorfrühling ausgebrochen, Glühweinverkäufer konnten sich ihren Hobbys widmen. Zwei Polizeiautos fuhren langsam vorbei, wie auf der Pirsch. Tom steckte einen Finger in die Salatsauce und leckte ihn ab. Er schloss die Augen und dachte wohl über den Geschmack nach.
» Na«, sagte Gitta und legte beide Arme um meine Taille. Mein Gesicht wurde heiß.
» Tom«, sagte sie, ohne mich loszulassen, » so einen tollen Balkon wie ihr hätte ich auch gern. Da könnte ich im Sommer nackt in der Sonne liegen!«
» Träum weiter«, sagte Tom. » Auf deinem Balkon sitzt Frau Hauenstein und qualmt, bis dass der Tod uns scheidet.«
Er half dem Geschmack der Salatsauce mit einem Teelöffel Senf und, wie sich bald herausstellen sollte, zu viel Salz nach.
Nach dem Essen wurden Kerzen angezündet. Die Hunde gähnten. Erschöpft von dem aufregenden Fernsehabend spannten sie unter dem Wohnzimmertisch aus. Für mich interessierten sie sich nicht mehr. Betty legte eine Hand über ihr Glas, als Tom ihr nachschenken wollte, und gab mir Zeichen, dass wir bald aufbrechen sollten. Heike wollte die CD hören, die Gitta ihr geschenkt hatte, eine Zusammenstellung von Hits der letzten Jahre. Tom fragte, ob ich Lust hätte, demnächst mit ihm ins Stadion zu gehen und anschließend noch einen zu heben.
» Ja, macht das mal!«, rief Heike.
Ich tat erfreut, sagte dann halbherzig etwas von einer Einweihungsparty in unserer neuen Wohnung.
» Bin ich auch eingeladen?«, fragte Gitta. Sie räkelte sich auf dem Sofa, fragte, wie es mit einem Spielchen sei, Karten oder Würfel, und erinnerte sich laut an die Pfänderspiele, die in ihrer früheren WG gespielt worden waren.
» Ich hab mir vorher immer fünf T-Shirts und drei Slips übereinander angezogen, und trotzdem saß ich nach einer halben Stunde ohne alles da. Als einzige Frau unter drei Männern!«
» Schluss!«, sagte Betty laut. » Ich will das nicht hören!«
» Mein Gott, entschuldige«, sagte Gitta und lachte schrill. » Wusste ja nicht, dass du so prüde bist.«
Betty war zu dem Tchibo-Ding gelaufen, das Sweet About Me spielte, und versuchte mit Gewalt, aber ohne Erfolg, es zum Schweigen zu bringen.
» Was ist denn los?«, fragte Tom. Auch die Hunde richteten sich alarmiert auf, jaulten.
» Das Lieblingslied unserer verstorbenen Tochter Maya«, sagte ich mit belegter Stimme. Ich half Betty beim Ausschalten des Geräts, dann verabschiedeten wir uns eilig.
9
M ichelle hatte vor dem Frühstück die Endlostaste ihres CD -Players gedrückt, um immer wieder denselben Song zu hören. Sie und Betty konnten ihre Lieblingsstücke tausendmal hintereinander abspielen, überall und wochenlang. Sie konsumierten ihre Hits, nutzten sie ab, und dann war es vorbei. Wurde das Stück nach der Begeisterungsphase im Radio gespielt, stöhnten sie genervt und fragten sich, was sie an der Nummer jemals hatten finden können.
Im Moment war Break Of Dawn, ein Oldie von Michael Jackson, ihr Favorit. In Michelles Zimmer machten sie Gymnastik dazu. In Rückenlage mit angewinkelten und auseinandergeklappten Beinen, eine Hand im Schritt, trainierten die beiden ihren Beckenboden.
Ich ging mit Musik nicht um wie mit einem Kaugummi, das man nach einiger Zeit einfach ausspuckt. Von Songs, die mich vom Hocker hauten, hielt ich mich fern. Ich wechselte sofort den Sender, lief notfalls mit zugehaltenen Ohren vor ihnen weg. Ich versuchte, sie mir aus dem Kopf zu schlagen. Sie sollten einmalig bleiben. Ich sparte sie für den perfekten Augenblick auf: nach dem Anruf des Jurypräsidenten, der mir mitteilte, dass sie einen meiner Texte zum Artikel des Jahres gewählt hatten; beim Geldzählen nach einem reibungslosen Bankraub; nachdem mich eine unbekannte Schöne auf der Straße oder im Supermarkt angelächelt hatte. Und wenn ich mir dann einen dieser Songs anhörte, musste ich mit mir allein sein. Niemand sollte dazwischenquatschen, sagen: » Ganz gut, aber nicht überragend.«
Michelle schlürfte laut ihren Milchkaffee. Betty räusperte sich erfolglos. Ich las Zeitung.
» Bist du wirklich ein Leichenschänder?«, fragte Michelle mich plötzlich.
» Bitte?«, fragten Betty und ich gleichzeitig.
» Hat Tom gesagt. Weil du so oft zu Frau Hammelstein gehst.«
» Hauenstein«, sagte ich. » Und auch sonst musst du dich verhört haben.«
» Na ja«, sagte Betty, » so ganz unrecht hat Tom nicht. Du bist wirklich der
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