Symphonie des Lebens
Händchen den Arm Carolas umklammert. »Bleibst du jetzt immer hier?«
»So lange, bis ihr wieder ganz gesund seid.«
»Dann wollen wir immer krank sein, Mami … damit du immer bei uns bleibst.«
Und Alwine fragte: »Warum ist der Onkel Jean wieder weg, Mami?«
»Er mußte zurück, mein Kleines«, antwortete Carola heiser.
»Er konnte so schön mit Puppen spielen …«
»Ja, das konnte er.« Carola starrte gegen die Wand. »Er verstand es, Puppen zum Lachen zu erwecken.«
»Ja, Mami, ja.« Babette jubelte. »Er hat den Waldo richtig bellen lassen … wie einen richtigen Hund, einen lebendigen. Kommt Onkel Jean wieder?«
»Ich glaube nicht, Kleines.«
»Wie schade, Mami –«
»Vielleicht –«
Carola sah gegen das verhängte Fenster. Die Erinnerung an Leclerc war in ihr wie Blei. Es lag auf ihrem Herzen und hemmte den Schlag. Sie hatte sich bemüht, nicht mehr an diese einzige Nacht zu denken, sich einzureden, sie sei nie gewesen, nichts als ein Alptraum … aber dann stand sie abends vor dem Spiegel, starrte auf ihren herrlichen, nackten Körper und sah die jetzt langsam verblassenden blauen Flecke, wo die Finger Leclercs sie gepackt hatten, Finger, die in der Leidenschaft die Kraft einer eisernen Zange bekommen hatten. Aus diesem Griff war kein Entrinnen mehr gewesen, und sie hatte auch gar nicht entfliehen wollen, sie war ihm entgegengetaumelt wie ein Verdurstender der Quelle und hatte die eisernen Finger gar nicht gespürt. Jede Berührung war wie Feuer gewesen, jedes Wort wie ein heißer Schrei, jede Bewegung wie ein vulkanisches Beben, jeder Kuß wie ein brennendes Siegel … du gehörst mir … mir … mir … mir …
Bis jener grauenvolle Morgen kam … die völlige Leere in ihr … die grelle Sonne, in der Jean Leclerc dastand wie ein verhungerter Hausierer, entblößt aller Dämonie, ein Jungengesicht, in das sie hätte hineinschlagen mögen, weil es so schrecklich unverständlich war, daß ein Betrug so aussehen konnte.
Es war nicht möglich, die Erinnerung auszulöschen, so wie die blauen Flecken auf ihrer weißen Haut langsam vergingen. Neben der Schalheit des Betruges blieb in einem Winkel des Herzens doch noch ein Glimmen übrig, jener verwerflich-kitzelnde Gedanke, daß das Unrechte schön gewesen sei, schön in dem Augenblick, in dem es geschah.
»Mami, warum kommt Papi nicht?« fragte Babette und rüttelte an Carolas Arm.
Sie schrak empor und beugte sich über das rotgesprenkelte Gesichtchen.
»Papi muß doch dirigieren, Spätzchen.«
»Och … immer dirigieren. Können die nicht mal allein spielen?«
»Nein, das geht nicht.«
»Dann muß Papi immer bei ihnen sein?«
»Ja, mein Kleines.«
»Ich werde nie einen Mann heiraten, der dirigiert, Mami …« Babette schloß die Augen. Das Fieber machte sie müde und schlapp. »Warum haben wir keinen anderen Papi?« sagte sie leise. »Einen, der kommt, wenn wir krank sind …«
Carola schwieg. Heiß stieg es in ihr empor, ihr Herz krampfte sich zusammen. Ich werde es ihm schreiben, dachte sie. Ich werde ihm die Gedanken seiner Kinder schreiben. Dann wird er aufwachen, dann muß er aufwachen, wenn sein Herz wirklich nicht zu einem Notenschlüssel geworden ist. Wie weit ist unser Leben schon, wenn ein Kind so sprechen kann –
Babette schlief. Auch Alwine träumte nebenan in ihrem Bett. Carola deckte beide Kinder zu und verließ auf Zehenspitzen das Kinderzimmer.
Unten in der Halle traf sie Erna Graudenz. Erna hatte den Tisch gedeckt und war bereit, Carola bei den Kindern abzulösen.
»Es ist alles fertig, gnädige Frau«, sagte das Mädchen. »Der Tee steht in der Warmhaltekanne.«
»Danke, Erna. Es ist gut …«
Carola trat hinaus auf die Terrasse und sah über den abenddunklen See. Am Horizont, über der schwarzen Wand der Berge, wetterleuchtete es.
Was soll werden, dachte sie. Wie soll unser Leben weitergehen? Jetzt steht der große Bernd Donani in Lausanne vor dem Sinfonie-Orchester, und viertausend Augen starren auf seinen Rücken, auf seine beschwörenden Hände, auf seine weißen Haare, die um seinen Kopf flattern. Ein Magier der Musik, werden morgen die Zeitungen schreiben.
Und zweimal nur hat er bisher angerufen und gefragt, wie es den Kinder geht. Zweimal … wegen der Kinder … aber kein Wort der Frage: Wie geht es meiner Frau?
Ist das ein Leben?
Carola lehnte sich an die Balustrade, die den Garten von dem Hang zum See hinunter trennte.
Ich werde ihm auch nicht schreiben, dachte sie. Wenn die Kinder gesund sind,
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