Symphonie des Lebens
Zeit überstehen zu müssen. Er verbeugte sich vor dem mageren Beifall und kam nicht mehr aus dem Künstlerzimmer heraus, als die einundfünfzig Besucher weiterklatschten. Er überließ es Mario Brandelli, sich dafür zu bedanken, daß die Zuhörer geduldig ausgehalten hatten.
Dann war er wieder allein. Brandelli war gegangen, ohne ihm noch ein Wort zu sagen. Franco Gombarelli ließ sich nicht blicken, Carola war für immer gegangen. Nur zwei Putzfrauen erschienen, wunderten sich, daß noch jemand da war, und begannen, das Podium zu kehren.
Müde packte Leclerc seine Geige ein und verließ das Konzerthaus. Auf der Straße sah er hinauf zu den noch erleuchteten Fenstern. Dort saß das Orchester mit Gombarelli und feierte bei einigen Flaschen Wein. Er hörte sie lachen. Sie lachen mich aus, dachte er bitter. Sie lachen über mich.
Da sah er das Plakat. Es hing an der Hauswand, ein großes Stück Papier mit gelben Buchstaben.
Gala-Konzert.
Leclercs Finger wurden zu Krallen.
Gala-Konzert mit einundfünfzig Personen.
Er trat an das Plakat, ergriff es und riß es von der Wand. Ein Pärchen, das eng umschlungen an ihm vorbeiging, starrte ihn verwundert an. Über ihm, aus den Fenstern, schallte noch immer Lachen.
Aufhören! wollte er schreien. Hört doch auf! Bitte, bitte, hört auf … ich weiß, daß ich ein Idiot bin! Hört doch auf mit dem Lachen!
Aber er schrie nicht. Er umfaßte den Geigenkasten mit beiden Händen und rannte davon. Er rannte hinunter zum Meer und dann an der Küste entlang, hinaus aus der Stadt.
*
Carola schlief tief, als er ins Schlafzimmer schlich und leise die Türe hinter sich zuzog. Fast eine Stunde hatte er unten an der steilen Felsentreppe auf der Straße gesessen und nicht gewagt, hinaufzusteigen. Er hatte Angst, daß das Haus verlassen war, und hier, über den Klippen, würde ihn die Einsamkeit mit zerstörender Gewalt überfallen. Dann war er doch die Treppen hinaufgestiegen, hatte die Tür aufgeschlossen und stand in der Diele, lauschend, mit angehaltenem Atem. Alles dunkel, dachte er. Alles still und verlassen. Der Traum vom großen Jean Leclerc ist zerronnen.
Er tappte durch die Finsternis zum Schlafzimmer. Ein unendliches Glücksgefühl stieg in ihm hoch, als er Carola im Bett sah … leise zog er sich aus und schlug die Bettdecke zurück. Carola schlief wie immer, auf dem Rücken, die Beine etwas angewinkelt und nackt.
Da legte er sich zu ihr, kroch an sie, heran, schob seinen Kopf auf ihre Schulter und küßte sie in die Halsbeuge. Sie wachte nicht auf … sie flüsterte im Schlaf, legte den Arm um Leclercs Körper und umfaßte ihn, wie eine Mutter ihr schutzsuchendes Kind umfängt und an sich drückt.
Leclerc schloß die Augen. Mit einem Lächeln schlief er ein.
Er war glücklich und fühlte sich geborgen.
Es war heller Morgen, als er erwachte. Carola war schon aufgestanden … er rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Da sprang er auf und rannte rufend durch das Haus, bis er ihren Zettel neben dem gedeckten Frühstückstisch fand.
»Bin in Cannes«, stand kurz darauf. »Komme gegen Mittag zurück.«
Neben dem Zettel lagen zwei Morgenzeitungen. Der Kulturteil war aufgeschlagen. Leclerc beugte sich herunter und las die kurze Kritik der ersten Zeitung.
»Das Gala-Konzert des jungen Geigers Jean Leclerc mit den sauber spielenden Turinern unter Mario Brandelli im großen Saal des Künstlerhauses ließ eine große, brennende Frage über das Beste an diesem Abend unbeantwortet: Wo ließ Jean Leclerc seinen Frack arbeiten?«
Leclerc zerknüllte die Zeitung und schleuderte sie, zusammen mit der anderen, ungelesenen Zeitung, hinunter ins Meer. Aber die große Wut, die ihn noch gestern nacht gepackt hatte, kam nicht zurück. Er hatte geschlafen, der innere Druck war vorbei, die Sonne schien, und er saß auf der Terrasse über dem leuchtend blauen Mittelmeer.
Ich habe Zeit, dachte er jetzt. Carola ist nicht gegangen, es wäre auch zu merkwürdig gewesen, daß sich eine Frau von mir lösen kann. Solange Carola bei mir bleibt, wird das Leben sorglos sein … und in diesen Monaten wird man sich umsehen müssen, wo die neuen Chancen liegen. Die Liebe allein ist keine harte Währung.
Mit gutem Appetit frühstückte er und saß dann später am Radio und hörte Tanzmusik. Wie man sich nur so aufregen kann über einen mißlungenen Abend, dachte er und dehnte sich in der Sonne. Man sollte viel kaltschnäuziger dem Leben gegenüber sein, viel mitleidloser. Hat jemand Mitleid mit
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