Symphonie des Lebens
verdient.
Aber Jean Leclerc rührte sich nicht. Er wandte sich nur um, drückte das Gesicht gegen die Fensterscheibe und schwieg. Erst als hinter ihm die Tür klappte, wirbelte er herum. Carola war gegangen. Statt ihrer war Gombarelli gekommen, mit einem verlegenen Lächeln, händereibend und mit dem Gesicht eines geprügelten Hundes.
»Raus!« brüllte Leclerc.
»In zehn Minuten beginnt das Konzert –«, sagte Gombarelli stockend. »Ich möchte nur noch …«
»Raus!« Leclerc bückte sich und ergriff einen Hocker. Gombarelli hob abwehrend beide Arme.
»Signore … es sind zehn Pressevertreter im Saal.«
»Also auch noch zehn Freikarten von den zweiundvierzig!«
»Es sind mittlerweile einundfünfzig. An der Abendkasse standen noch einige Konzertliebhaber –«
»Raus!« Leclerc schleuderte den Schemel gegen Gombarelli. Mit einem Sprung rettete sich der Impresario und stürzte aus dem Zimmer. Hinter ihm knallte die Tür zu. Schwer atmend lehnte sich Leclerc an die Wand und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Vor der Tür hörte er Stimmengewirr, das Organ Gombarellis hörte er deutlich heraus. Als sich die Tür wieder öffnete, sah sich Leclerc nach einem neuen Wurfgegenstand um und entdeckte seinen Geigenkasten.
Ins Zimmer kam der Dirigent Mario Brandelli. Leclerc nahm die Hände von dem Geigenkasten. »Was wollen Sie denn noch hier?« keuchte er.
»Sehen, wie weit Sie sind. Das Orchester sitzt bereits. Sie sollten sich vor dem Auftritt noch einmal kämmen.«
»Ich spiele nicht!«
»Wir aber!« Mario Brandellis Stimme war fordernd. »Es geht nicht um die Besucherzahl – es geht um die Kunst.«
»Ich pfeife darauf!«
»Das hätten Sie bei Donani nicht sagen dürfen –«
Leclerc streckte den Kopf weit vor. Sein bleiches Gesicht war verzerrt.
»Wer noch einmal in meiner Gegenwart den Namen Donani nennt, den bringe ich um …«, sagte er heiser. »Verstehen Sie mich: Den bringe ich um! Dieser Name ist für mich, als stoße man mir ein Messer in den Leib!«
»Wie Sie wollen.« Mario Brandelli hob die Schultern. Er kontrollierte den Sitz seiner weißen Frackschleife und straffte den Frackrock. Dann sah er auf die Uhr und nickte.
»Noch zwei Minuten. Ich gehe jetzt hinaus … Sie können nachkommen oder nicht, es ist mir gleich. Wir spielen … und wir werden Ihre Solostellen schweigend absitzen. Es wird das merkwürdigste Violinkonzert werden. Auch so kann man von sich reden machen … da haben Sie recht.«
Er öffnete die kleine Tür zum Saal und betrat das Podium. Schwaches Klatschen flatterte zu ihm hin. Leclerc sah, wie er sich verbeugte und die Partitur aufschlug.
Mit zitternden Händen ergriff Leclerc seine Geige. Ihm war, als läge er in einem Backofen. Unerträgliche Hitze drückte auf sein Gehirn. Ich gehe nicht, dachte er immer wieder. Nein, ich gehe nicht. Aber er ging doch … er drückte die Geige an sich, klemmte sie unter den Arm und schwankte hinaus auf das Podium.
Wieder Beifall, schwach, blechern, widerhallend im leeren Saal. Er sah, verteilt in den leeren Sitzreihen, ein paar Köpfe, wie helle Tupfen auf einem dunklen Tuch mit Waffelmustern. Er verbeugte sich, suchte im Saal das weiße, schillernde Kleid Carolas und fand es nicht. Sie ist gegangen, dachte er. Sie ist für immer gegangen. So schnell kann man auseinandergehen, so leicht ist es.
Eine grenzenlose Einsamkeit überfiel ihn plötzlich. Er kam sich ausgesetzt vor, frierend in einer eisigen Welt.
Mario Brandelli hatte den Taktstock gehoben. Das Orchester begann. Mit den ersten Tönen schrak Leclerc auf … er starrte auf Brandelli, klemmte seine Geige unter das Kinn, umkrallte den Bogen und hörte um sich ein Gewirr von Tönen, ohne die Melodie erkennen zu können.
Auch er läßt mich im Stich, auch er, jammerte es in ihm. Alle sind gegen mich. Was habe ich denn getan? Warum stößt mich die Welt aus?
Brandelli wandte den Kopf zu ihm, die linke Hand streckte sich einladend Leclerc entgegen, eine weiße, offene Hand. Ein Zucken der Finger, ein leichtes Anheben … das Zeichen … der Einsatz … mein Gott, mein Einsatz –
Und Leclerc spielte. Seine Geige sang – aber es war nur ein Herunterspielen der Töne, wie sie der Komponist aufgeschrieben hatte. Die Seele fehlte, die Deutung, das Unaussprechliche, das in der Musik Verzauberung und Entrückung auslöst. Es war ein schulmäßiges Spielen, kein Virtuosenkonzert.
Das Konzert ging vorüber, ohne daß Jean Leclerc mehr empfand als den Zwang, die
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