Symphonie des Lebens
Kopf. Bewundernd sah sie, wie einige Strähnen seiner schwarzen Locken über seine hohe Stirn fielen.
Mit einem Ruck zerstörte er ihren Widerstand, zog sie an sich und küßte sie. Er spürte das Zittern ihres Körpers, die Kälte ihrer zusammengepreßten Lippen … da legte er die Arme wie schützend um sie und strich mit beiden Händen über ihre blonden Haare. Sie öffnete die Lippen, erwiderte seinen Kuß, aber in der nächsten Sekunde stieß sie mit beiden Fäusten gegen seine Brust, befreite sich aus seinen Armen und holte mit der rechten Hand weit aus. Es klatschte laut in der nächtlichen Stille, als Leclerc die Ohrfeige bekam … er hinderte sie nicht daran, obgleich er dazu die Möglichkeit gehabt hätte.
»Danke, Madame …«, sagte er leise, als sie keuchend und bebend vor ihm stand. »Ich liebe Sie … und nun weiß ich, daß auch Sie mich lieben …«
Als fliehe sie vor etwas Entsetzlichem, rannte Carola davon. Sie rannte zurück über die riesige Place de l'Opéra, ein kleiner, rotblonder, flatternder Vogel, der in seiner Angst nicht mehr weiß, wohin er fliegen soll.
Bernd Donani saß noch wach in seinem Bett, als sie endlich ins Hotel zurückkam. Er warf die Partitur der Sinfonie wieder auf den Boden, als Carola ins Zimmer trat.
»Ist dir besser, Engelchen?« fragte er. Auf Carolas Kopfkissen lag das Etui mit dem Halsschmuck. »Hat dir die Nachtluft gutgetan?«
»Ja.« Sie warf den Pelz ab und löste die Verschlüsse des roten Abendkleides. »Hast du dir keine Sorgen gemacht?«
»Nein, mein Kleines.« Donani lächelte gütig. »Frauen haben manchmal Launen … da schweigt man besser. Ich weiß doch, daß alles nur eine dumme Stimmung ist … daß du mich liebst …«
»So, das weißt du?«
Sie löste die Haare und stand nackt vor dem Spiegel, ein weißer, schlanker Körper, wie eine gemalte Schönheit. Durch den Spiegel sah sie ihren Mann an.
»Ja, das weiß ich ganz sicher.« Donani gähnte und blickte auf die auf dem Boden liegende Partitur. »Übrigens, was sich die modernen Komponisten da zurechtschreiben … ein unspielbarer Schmarren –«
Wortlos löschte Carola das Licht.
Das Etui mit dem Halsschmuck schob sie mit einer wilden Handbewegung zur Seite. Es fiel zwischen Donani und sie; er merkte es schon gar nicht mehr. Sein Atem ging ruhig und zufrieden. Mit der Dunkelheit hatte ihn der Schlaf überfallen.
Sie drückte den Kopf in das Kissen und begann zu weinen. Aber während sie weinte, sah sie wieder die schwarzen Locken vor sich, wie sie über die hohe, braune Stirn Leclercs fielen. Und sie sah die weichen Lippen, die näher und näher kamen und so riesengroß wurden, daß sie sie aufsaugten.
So schlief sie ein, im Traume lächelnd.
Sie schlief so gut wie lange nicht mehr –
*
Seit der Nacht in Paris sah Carola Donani den Geiger Jean Leclerc nur noch auf seinem Stuhl im Orchester, dritte Reihe der ersten Geigen, der vierte von links.
Er suchte nicht mehr ihre Nähe, und Carola war zu stolz, ihm entgegenzukommen. Aber was sie nie getan hatte, wurde in diesen Tagen zur Gewohnheit … durch einen Spalt der geöffneten Tür des Künstlerzimmers sah sie auf das spielende Orchester und beobachtete Leclerc während des Konzertes. Pietro Bombalo sah es anders. Er glaubte, Carola sehe sich ihren Mann an, ein Genuß, den er widerspruchslos verstand.
»Achten Sie einmal darauf, Signora, wie er beim crescendo beide Arme ausbreitet, als wolle er das ganze Orchester umarmen. Das ist wirkungsvoll, da geht das Publikum von den Stühlen, da sieht man, wie man völlig in Musik aufgehen kann.«
Carola nickte und sah auf Jean Leclerc. Er schwitzte. Der Geigenbogen tanzte über die Saiten, die schlanken Finger der linken Hand griffen die Töne, vibrierten, lösten singende Melodien aus dem toten Material. Seine Blicke wanderten vom Notenblatt zu Donani und zurück zu den Noten, immer wieder, einmal fragend, dann kontrollierend, dann abwartend … ein Mensch, untergeordnet dem Willen des einzigen Mannes, der vor ihm stand und die Tempi angab und unter seinen beschwörenden Händen aus aneinandergereihten Tönen ein Kunstwerk entstehen ließ. Ein Sklave des großen Bernd Donani, solange er hinter dem Notenständer saß und eine Geige an sein Kinn drückte. Ein Sklave, der küssen konnte, daß Härte wie Zärtlichkeit wirkte.
Auch Donani sprach nicht mehr über die laute Nacht von Paris. Allem Anschein nach hatte er sie vergessen oder maß ihr keinerlei Bedeutung bei. Er war wie immer …
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