Symphonie des Lebens
Schlafwagenabteil aufgesucht, sondern saß erst im Speisewagen und trank ein Glas Tee mit Zitrone. Der Abschied von ihrem Mann war kurz gewesen. Sie hatte nicht gefragt, ob er zu Hause angerufen hatte … da er nichts sagte, nahm sie an, daß er es nicht getan hatte. Das machte sie doppelt wütend. Er hat kein Herz, dachte sie immer wieder. Er kennt nur seine Musik, seine verdammten fis und ges und moll und dur, er ist nichts als ein atmender Taktstock. Ich, seine Kinder, seine Ehe, alles ist ihm gleichgültig, wenn nur die Posaunen in der Eroika richtig einsetzen und man Smetanas Moldau im Orchester rauschen hört.
Mein Gott, waren diese neun vergangenen Jahre wirklich nur ein einziger Irrtum gewesen? Habe ich neun Jahre weggeworfen?
Sie rührte in dem Teeglas, obwohl sich der Zucker längst aufgelöst hatte. Als ein Schatten über ihren Tisch fiel, sah sie erstaunt auf. Dann setzte ihr Herzschlag einen Augenblick aus; wie eine Lähmung kam es über sie.
Jean Leclerc verneigte sich höflich und lächelte sein schönes, weiches Jungenlächeln.
»Darf ich Platz nehmen, Madame?«
»Bitte –«, Carolas Stimme war tonlos.
»Danke.« Leclerc setzte sich und faltete die Hände auf dem Tisch wie ein braver Junge. Aber seine Augen glänzten, und zwei Strähnen seiner schwarzen Locken hingen wieder in seiner Stirn.
»Was … was machen Sie in diesem Zug …« Carola suchte nach der Kraft, ihren inneren Aufruhr zu dämpfen. Es war schwer, die Stimme ruhig zu halten, wenn das Herz bis zum Kehlkopf klopft. »Ich denke, heute ist das Brahmskonzert.«
»Ich habe mich krank gemeldet, Madame. Ob ich in der letzten Reihe der ersten Geigen mitspiele oder nicht … das wirft einen Brahms und auch einen Donani nicht um. Ich habe mir den Magen erkältet, eine exogene akute Gastritis, wie der Mediziner sagt. Ich habe sogar ein Attest eingereicht beim 1. Konzertmeister. Alles muß seine Ordnung haben, Madame …«
»Und wo … wo fahren Sie jetzt hin?«
»Nach Deutschland. Mit Ihnen, Madame.«
Carola umklammerte mit beiden Händen das heiße Teeglas. Sie spürte die glühende Hitze nicht, sie spürte nur, wie sie zitterte.
»Das ist doch ein schlechter Scherz, Leclerc …«
»Ich weiß, daß eines Ihrer Kinder erkrankt ist. Donani erzählte es dem 1. Konzertmeister. Er läßt Sie allein fahren … es war für mich unmöglich, das zuzulassen. Gerade jetzt brauchen Sie Beistand, Madame. Wenn die deutschen Männer nicht wissen, was ihre Pflicht gegenüber Frauen ist – ich weiß es und handle danach. Ich möchte Ihnen helfen, Madame. Ich bin Ihr Diener …«
Carola sah aus dem Fenster und schwieg. An ihr vorbei raste die hügelige Landschaft der Vorapenninen. Pinienhaine, Zypressenwälder, Steinbrüche, kleine, wie verfallen aussehende Dörfer.
»Sie machen diese Fahrt umsonst«, sagte sie endlich. Sie trank den inzwischen erkalteten Tee aus und erhob sich. Leclerc schnellte von seinem Sitz hoch. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Madame. Ob umsonst oder nicht … es beruhigt, zu wissen, daß ich in Ihrer Nähe bin. Schlafen Sie gut, Madame …«
In dieser Nacht schlief Carola nicht. Sie lag auf ihrem Schlafwagenbett und starrte gegen die Decke. Einen Wagen weiter hatte sich Leclerc in die Ecke seines Sitzes gezwängt und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Es gibt ein Unglück, dachte Carola und legte die Hände unter ihren Kopf. Ich werde ihn wieder schlagen müssen … Ich darf mich nicht vergessen … ich habe zwei Kinder, ich habe einen Mann … Ich habe die Pflicht, treu zu sein …
Am nächsten Vormittag donnerte der Zug in den Münchener Hauptbahnhof.
Wortlos nahm Leclerc die Koffer Carolas, als der Schlafwagenschaffner sie aus dem Wagen hob. Wortlos folgte er ihr wie ein Diener, etwas nach vorn gebeugt von dem Gewicht des Gepäckes. Wortlos gingen sie hinüber zum Starnberger Bahnhof.
Es war, als müßte es so sein, ja, als sei es nie anders gewesen …
*
Die Erkrankung Alwines war wirklich nur die Masern. Sie lag mit hohem Fieber im Bett, ihr Kopf glühte, aber sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, als Carola unverhofft ins Zimmer kam.
»Mami! Mami!« schrie sie. »Wie schön, daß du da bist! Ist Papi auch mitgekommen?«
Carola legte Alwine zurück ins Bett und deckte den fiebernden Körper zu.
»Nein, du weißt doch, Papi muß dirigieren. Er kann doch nicht zweitausend Menschen nach Hause schicken, nur weil Alwinchen die Masern hat …«
»Warum kann er das nicht, Mami?«
Carola schwieg. Ja,
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