syrenka
halbes Jahrhundert lang war sie die engagierte Leiterin des Pilgrim Hall Museum, des Gründerväter-Museums gewesen. Jetzt hatte sie bläulich weißes Haar, eine Haut wie Krepppapier und litt unter Knochenschwund.
Die Zeit hat ihr so vieles genommen, dachte Hester, und ihr nur ihren krummen Körper und ihre Selbstsicherheit gelassen, mit der sie gerade verkündete: »Es wird Sie beruhigen, dass ich Pastor Marks geraten habe, einen Exorzismus durchzuführen.«
Glücklicherweise ist Dad nicht hier, um das zu hören. Sonst würde ihm der Geduldsfaden reißen, dachte Hester.
Nancy lächelte nur höflich.
»Entschuldigen Sie, Mrs. Atwood, ist ein Exorzismus nicht ein katholischer Ritus?«, schaltete Hester sich ein. »Weiß Pastor Marks überhaupt, wie so etwas geht?«
Mrs. Atwood zeigte mit ihrem knochigen Finger auf Hester und sagte: »Ich bin sicher, dass man dafür einen Priester von St. Peters ausleihen kann. Denn getan werden muss es! Und es hätte schon vor über einem Jahrhundert getan werden müssen, seit dieser grässlichen Tragödie, die hier in dieser Kirche stattgefunden hat.«
»Tatsächlich?«, hakte Hester rasch ein. »Was ist denn damals passiert?«
»Meine Großmutter hat es mir erzählt«, antwortete Mrs. Atwood mit leuchtenden Augen. »Einige Einwohner unserer Stadt sind dabei umgekommen, sogar ein Pastor.«
»Vor hundert Jahren ist diese Kirche doch einmal abgebrannt, oder? Sind sie bei dem Brand gestorben?«
»Oh nein! Der große Brand war später, im Jahr 1892. Nein, soviel ich weiß, waren diese Todesfälle vollkommen unerklärlich – und äußerst brutal.«
Jetzt war auch Sams Aufmerksamkeit geweckt. »Soll das heißen, die Leute sind ermordet worden?«
»Vielleicht war es das, was wir heutzutage Mord-Selbstmord-Kombination nennen. Meine Großmutter hat mir die Geschichte erzählt, als ich noch ein junges Mädchen war. Dabei hat sie zweifellos die wirklich schlimmen Details ausgelassen.« Sie lächelte und zeigte dabei ein etwas zu weißes Gebiss, dessen einzelne Zähne regelmäßig waren wie eine Klaviertastatur. »Da ich ein Mädchen mit einer lebhaften Fantasie war, habe ich mir ein paar Einzelheiten selbst dazu gedacht und war schließlich überzeugt, dass auch eine verbotene Liebe mit im Spiel gewesen sein musste.«
Eine verbotene Liebe. Mord-Selbstmord-Kombination. In einer Kirche, ausgerechnet! Hester dachte, dass diese Geschichte wohl wirklich dramatisch genug war, um über ein Jahrhundert lang Spuklegenden hervorzubringen!
»Erinnern Sie sich an die Namen der Opfer?«, fragte sie. »Ich würde gern mehr darüber erfahren.«
»Es ist eine wirklich spannende, vergessene Geschichte unserer Stadt«, stimmte Mrs. Atwood nickend zu. »Aber leider habe ich die Namen nie erfahren.«
»Erinnern Sie sich denn, in welchem Jahr diese Sache passiert ist?«
»Ach, mein schwaches altes Gedächtnis«, antwortete Mrs. Atwood geziert. »Ich hatte immer so vieles parat – Namen, Daten, Telefonnummern. Jetzt bin ich schon froh, wenn ich mir die Namen meiner Enkel noch merken kann. Aber es war auf jeden Fall vor dem Brand, mein Kind. Da bin ich mir ganz sicher.«
Nancy bot Mrs. Atwood den Arm und ging langsam mit ihr zum Ausgang.
»Ist es nicht schrecklich?«, fragte Mrs. Atwood. »Ich bin die Letzte meiner Generation. Und man kann niemand anders mehr fragen.«
Ezra hatte seine Schuhe längst mit den Füßen abgestreift, dennoch verlor er allmählich die Kraft in den Beinen. Irgendwo in der Nähe hörte er eine Glocke schlagen, und er suchte das Wasser nach der Navigationsboje ab, die dieses Geräusch verursachte. Schemenhaft konnte er vor dem sternenübersäten Himmel ihre schwarzen Umrisse ausmachen und er begann darauf zuzuschwimmen. Bei jeder Bewegung strömte neues Wasser durch seine Kleidung und kühlte seine Haut. Als er die Boje endlich erreichte, stellte er fest, dass sie bedeutend größer war, als man von einem Boot aus annehmen würde. Der mit Seepocken bewachsene Eisenboden bildete unterhalb der Wasseroberfläche eine Halbkugel. Der kreisrunde Teller, der sich darüber befand, war zwar groß genug, dass ein Mann sich darauflegen konnte, er befand sich aber so weit über dem Wasserspiegel, dass Ezra nicht hinaufklettern konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig,als sich mit den Händen am Rand des Tellers festzuklammern, während sein Körper im Wasser hing.
Von Erschöpfung überwältigt, sank ihm das Kinn auf die Brust. Das Gesicht näherte sich dem Wasserspiegel, seine
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