syrenka
wärmen, holte Ezras Jacke aus seinem Boot und deckte damit seinen Oberkörper zu. Dann betrachtete er ihn im Licht seiner Lampe: Die Lippen des jungen Mannes waren blauviolett, sein Atem ging flach und seine Haut war eiskalt. Der Fischer zog seinen Mantel aus und schlug ihn um Ezras Beine und seine nackten Füße. Schließlich holte er aus seiner Manteltasche noch eine Strickmütze, die er Ezra aufsetzte. Dann machte er seinenNachen von der Boje los und ruderte mit gleichmäßigen Zügen an Land, das fremde Boot im Schlepptau.
Zwei Stunden später erreichte er die kleine Zufahrt zu seinem Uferstück. Er zog die Boote an Land, steckte das Buch in den Hosenbund und trug den jungen Mann auf den Schultern die steile Küste hinauf zu seiner Hütte.
Die Frau des Fischers badete Ezra in warmem Wasser, verband seine Wunden und zog ihm trockene Kleider an. Mithilfe ihres Mannes legte sie ihn in ein Bett mit mehreren Decken und schob ihm löffelweise heißen Tee zwischen die Lippen. So lag Ezra einige Tage in einem fiebrigen Zustand, ehe er wieder kräftig genug war, um nach Hause zurückzukehren.
Immer wieder ging Hester in den ruhigen Augenblicken des Tages der mysteriöse Mord-Selbstmord durch den Kopf. Die Sache war wie ein historisches Puzzlespiel – was Hester faszinierend fand. Zudem hatte er ziemlich wahrscheinlich auch die Spuk-Hysterie in der Kirche ausgelöst, in die Hesters eigene harmlose Erfahrung mit den Silberfischchen ebenfalls eingegangen war. Sooft Hester während der ganzen Woche im Howland-Häuschen oder in dessen Garten einen Moment für sich hatte, setzte sie in Gedanken die spärlichen Informationen zusammen, die sie von Sylvie Atwood bekommen hatte. Hester zweifelte nicht im Geringsten daran, dass die Fakten dieses Ereignisses irgendwo im Verborgenen lagerten. Eigentlich ging es nur darum, wie man sie fand. Das Internet hatte sich dabei als wenig hilfreich erwiesen. Dieses düstere Stück Lokalgeschichte hatte nie den Weg in die elektronischen Datenbanken gefunden. Hester brauchte ganz altmodisch eine Spur. Eine einzige, zuverlässige Spur.
Am Samstag war Hesters Hütte irgendwann leer, und auf dergegenüberliegenden Straßenseite, vor dem Haus von William Bradford, dem ersten Gouverneur der Pilgerväter, hatte sich eine Gruppe Leute versammelt. Es war ein heißer Tag. Die Unterröcke unter Hesters Rock waren so verschwitzt, dass sie regelrecht klamm geworden waren und schwer herabhingen. Den Rücken zur Tür gewandt, stellte sie ihren Fuß auf einen Stuhl und zog ihren Strumpf hoch. In diesem Moment pfiff es hinter ihr.
»Na, wen haben wir denn hier?«, fragte eine neckende Stimme.
Eine Gruppe Jungen schob sich durch den niedrigen Türrahmen in den Raum hinein. Ein Junge, der besonders groß geraten war, glotzte mit offenem Mund durch das Fenster – als wäre Hester ein Tier im Zoo.
»Einen guten Tag entbiete ich euch«, sagte Hester. »Ich sah euch nicht an meiner Tür, niemals sonst hätte ich mich so schamlos betragen. Will jemand unter euch mir vielleicht die Ehre erweisen, Platz zu nehmen?« Sie deutete auf den nächsten Stuhl.
Einer, der ein Boston-T-Shirt trug und ungefähr in Hesters Alter sein mochte, schob sich ein wenig vor. Er zeigte auf das Bett. »Da drüben würde ich mich gern hinlegen – mit dir zusammen.« Eine Lachsalve brach hinter ihm aus.
Hester sah ihn an, konnte aber einen wütenden Blick gerade noch unterdrücken. Sie holte Tücher, um den Tisch zu decken.
»Das ist heute die erste Siedlerin, die auch ohne Make-up gut aussieht«, stellte der Lulatsch am Fenster fest.
Der Typ im Boston-T-Shirt kam ein paar Schritte näher. »Stimmt. Wie sieht´s denn aus? Hast du einen Freund?«
»Es tut mir leid, mein Herr, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.«
»Einen Macker. Einen Kerl. Einen Typen eben, der dich jede Stunde des Tages, wann immer du Lust hast, f- ...«
»Sir, ich bin verheiratet!«, fiel Hester ihm ins Wort. »Und Gott hat uns mit zwei Kindern gesegnet, mit Desiree und dem kleinen John. Sie holen gerade Wasser am Fluss.«
Der Typ verdrehte die Augen. »Ich will wissen, ob du im richtigen Leben einen Freund hast!«
Der Job machte es ihr unmöglich, ihm als Hester Goodwin zu antworten. Und Hester war klar, dass er das ausnutzte. »Mein Ehemann John ist mit der Bürgerwehr unten bei der Schanze und wird jeden Moment zurückkommen. Ihr werdet ihn leicht erkennen, denn anders als ihr, mein Herr, trägt er einen recht eindrucksvollen Degen am Bund.« Sie warf
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