T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
die Fischer ihren Fang sortierten oder am Motor herumbastelten.
Am Ende einer der Piers lag die
Holy Terror,
ein Kabinenfischerboot. Butch Johansen saß am Steuer, in eine Zeitung vertieft. Eine schäbige Baseballkappe verbarg die Tatsache, dass er frühzeitig die Haare verloren hatte, und zwischen seinen Lippen klemmte eine Zigarette. Er trug einen Pulli mit einer Daunenweste darüber, dazu Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatten. Sein Bart war seit mindestens einer halben Woche keinem Rasierapparat begegnet.
Als Avas Schatten auf ihn fiel, schaute er auf.
Er kniff die Augen gegen die Sonne und den aufsteigenden Rauch zusammen, dann sagte er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen: »He, kleine Schwester!« So nannte er sie, seit sie damals ihrem Bruder, also seinem besten Freund, auf den Schafs- und Rotwildpfaden über die ganze Insel gefolgt war. Manchmal hatten die zwei versucht, sie abzuhängen – meistens vergeblich.
»Was zum Teufel machst du hier? Ich habe gehört, du wärst gestern Abend fast ertrunken, als du ein kleines Mondscheinbad genommen hast.«
»Das erzählt man sich also?« Normalerweise wäre sie in die Luft gegangen, aber er war Kelvins bester Freund gewesen, jemand, den sie kannte, solange sie denken konnte. Er zog sie ständig auf, und die Tatsache, dass so viele ihrer Angehörigen und Bekannten sie für verrückt hielten, schien ihn gehörig zu amüsieren.
»So ähnlich.«
»Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.«
»In einem Kaff wie diesem verbreitet sich jede Nachricht mit Lichtgeschwindigkeit.«
»Apropos Lichtgeschwindigkeit: Was hältst du davon, mich nach Anchorville überzusetzen?«
»Heißes Date?«
»Denk dran, ich bin eine verheiratete Frau.«
Butch schnippte seine Kippe ins Wasser. »Wenn du das unter Ehe verstehst …« Sie wollte schon protestieren, doch er hob eine Hand, um sie daran zu hindern, und fügte hinzu: »Schon gut, ich bin schließlich kein Spezialist. Es ist nur so, dass Wyatt und ich nicht immer einer Meinung sind.«
»Gibt es denn überhaupt jemanden, mit dem du einer Meinung bist?«
Seine dichten Augenbrauen zogen sich unter dem zerfransten Schild der Baseballkappe zusammen. »Schätze nicht. Zumindest nicht, seit Kelvin nicht mehr da ist.« Er löste bereits die Leinen der
Holy Terror.
»Dein Bruder war einzigartig.«
Sie verspürte stechende Gewissensbisse. »Ja, ich weiß.« Es war schwer, an Kelvins Tod zu denken, eine schmerzhafte Wunde, die nie ganz verheilt war. Obwohl seit jener grauenvollen Nacht fast fünf Jahre vergangen waren, war sie allen Beteiligten ständig präsent.
Ava kletterte an Bord und sah zu, wie Butch seine Kappe so drehte, dass der Schild im Nacken hing, und sich eine Sonnenbrille aufsetzte. Dann startete er den Motor.
»Du vermisst ihn immer noch«, stellte sie fest.
»Jeden einzelnen Tag.«
Sie setzte sich auf einen der Plastiksitze, während er das Boot von den anderen Schiffen in dem kleinen Hafen wegsteuerte. Auch sie vermisste ihren Bruder aus tiefster Seele, wenngleich ihr Teile jener Nacht, in der er gestorben war, fehlten, wie ausradiert waren, als weigere sich ihr Gehirn, die entsetzlichen Geschehnisse zu akzeptieren. Obwohl sie doch bei ihm gewesen war …
Es war knifflig, aus der engen Mündung der Bucht hinauszumanövrieren, denn sie wurde von sieben dunklen Felsen geschützt, die nur bei Ebbe sichtbar waren. Herrschte Flut, lauerten sie dicht unter der Wasseroberfläche. Sie waren heimtückisch und spitz, von ihrem Ururgroßvater »Hydra« genannt, nach dem vielköpfigen, schlangenähnlichen Ungeheuer aus der griechischen Mythologie. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeifuhren, schauderte Ava, denn bei diesen verborgenen Felsen war ihr Bruder ums Leben gekommen.
Um nicht in die grauen Tiefen der See zu starren, schlang sie die Arme um ihren Leib und richtete den Blick auf Butch. Dieser war voll und ganz auf die einzige dunkle Spitze konzentriert, die zurzeit aus dem Wasser ragte, voller Muscheln und Seesterne.
Als sie offenes Wasser erreichten, drehte Butch auf. Das kleine Motorboot schnitt durch die kabbelige, dunkle See, eine hohe Kielwelle hinter sich herziehend. Weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen, Möwen stiegen in den klaren, blauen Himmel.
Avas Stimmung hob sich, sobald sie an der Anlegestelle in Anchorville an Land ging. Sie entdeckte das Boot, das Wyatt am Morgen benutzt hatte, fest vertäut an seinem Liegeplatz, den etwas protzigen Kajütenkreuzer mit Innenbordmotor,
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