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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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sprang auf. Er rannte um den Tisch und stellte sich neben Sebastians Stuhl. Die Schlagader an seinem Hals pulsierte. Das letzte Mal hatte der Macher ihn vor einem Jahr geschlagen. Damals hatte Sebastian seine Freundin aus dem Internat in Italien besuchen wollen, aber der Macher hatte es verboten. Aus Wut hatte er die Wagenschlüssel des Machers in einen Gully geschmissen. Der Macher hatte ihn auf der Straße geohrfeigt. Er müsse Disziplin lernen, er kriege ihn schon klein, hatte er geschrien. Passanten hatten sich nach ihnen umgedreht und Sebastians Mutter hatte danebengestanden und nichts gesagt.
    Sebastian legte das Brot auf den Teller. Er stand langsam auf. Er war anderthalb Köpfe größer als der Macher. Die letzten drei Jahre hatte er täglich eine Stunde im Internat geboxt, er hatte Eishockey gespielt und Bergtouren gemacht. Sein Körper war glatt und hart. »Er trägt sogar nachts diese Uhr«, dachte Sebastian.
    Der Macher starrte Sebastian an, er schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Dann gab er auf. Er ließ sich in einen Sessel fallen, die Gesichtszüge entglitten ihm und sein Blick wurde stumpf.
    Sebastian sah, dass sein Haar dünn geworden war. Er nahm den Teller, ging zur Tür und schaltete hinter sich das Licht aus.
    Am nächsten Morgen stand Sebastian früh auf und fuhr in die Stadt. Er kaufte ein paar Bücher, ging in eine Ausstellung und setzte sich in ein Café. Er wartete. Als er am frühen Nachmittag in das Haus zurückkam, lag seine Mutter auf einem Liegestuhl. Der Rasen war kurz geschnitten, sie düngte ihn jedes Jahr mit Stickstoff. Sie trug eine Sonnenbrille und noch immer die Halskrause, deren Rand braun von Schminke war. Sie zog ihren Bademantel zu und nahm ihre Sonnenbrille ab.
    Er sah sie an und sie sah ihn an.
    Ihre Füße waren nackt, die Zehen waren von den Reitstiefeln verkrüppelt. Die Auflage des Liegestuhls war gelb und ihre Beine waren weiß und voller Adern. Er begriff, dass es nichts mehr zu sagen gab, weil es zu lange her war und weil es kein Haus am See mehr gab und keine hellen Tage. Er würde sein Leben beginnen und sie würde weiter ihr Leben leben. Sie hatten sich so entschieden und jetzt war es dumm, über Schuld nachzudenken.
    Er nickt ihr zu, das war alles, was er tat. Dann schloss er die Tür zur Terrasse wieder, er war vorsichtig, er wollte kein Geräusch machen. Er ging in das Zimmer unter dem Dach. Es war stickig, er öffnete das Fenster. Der Wind, der über die Felder kam, roch nach Hyazinthen und Iris. Er zog sich aus und legte sich auf das Bett. Seine Muskeln schmerzten. Er hörte, wie die Mutter im Hof auf und ab ging.

11
    Der Fotograf begrüßte Sebastian von Eschburg freundlich. Sie hatten sich bei einem Altschülertreffen kennengelernt. Der Fotograf hatte sein Abitur vor dreißig Jahren in Eschburgs Internat gemacht. Er hatte an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert, in den Achtzigerjahren hatte er Bildbände veröffentlicht, große Schwarz-Weiß-Fotos von Kohlezechen, Wassertürmen, Förderanlagen und Gasometern. Die meisten dieser Anlagen gab es jetzt nicht mehr. Der Fotograf war mit diesen Bildern bekannt geworden. Eschburg mochte die Industriebilder, menschenleere, harte Fotos vor grau-weißem Himmel.
    Der Fotograf gab eine Zeitschrift für Architekturfotografie heraus, war Mitglied in zahlreichen Gremien und leitete Jurys für Wettbewerbe. Er hatte Bücher über das Fotografieren geschrieben, besaß enorme technische Kenntnisse und schrieb regelmäßig Kritiken zu Fotografieausstellungen in der größten deutschen Zeitung. Er lebte von Auftragsarbeiten für Architekten und Zeitschriften, er fotografierte Wohn- und Bürogebäude. Seine Fotos waren immer noch makellos, aber er hatte nie eine internationale Karriere gemacht. Er sagte, das sei ihm gleichgültig, aber später begriff Eschburg, dass er darunter litt.
    Nebenbei betrieb der Fotograf vier kleine Studios in Berlin, sie liefen nicht unter seinem Namen und er fotografierte dort nicht selbst. Er sagte, das sei das »Brot-und-Butter-Geschäft«. In den kleinen Studios wurden Pass- und Porträtbilder gemacht, Aufnahmen von Hochzeits-, Firmen- und Geburtstagsfeiern und von den Abschlussklassen der Schulen.
    Der Fotograf bot Eschburg an, für ihn zu arbeiten. Eschburg mietete ein winziges möbliertes Zimmer in Charlottenburg. Am Anfang zahlte der Fotograf nur ein kleines Gehalt, aber es reichte zum Leben. Die ersten Monate las Eschburg die Bücher des Fotografen und alle anderen Bücher über

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