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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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er nichts. Der Fotograf hatte einen roten Kopf und sein Mund wurde sehr dünn, als er es sagte.
    An diesem Nachmittag ging Eschburg früh in das möblierte Zimmer, das er noch immer bewohnte. Er setzte sich an das Fenster und sah den Passanten auf der Straße zu. Er dachte an die großen Bilder des Fotografen, an die Wahrheit, die in ihnen war. Die Bilder würden noch da sein, wenn es den Fotografen nicht mehr gab. Der Fotograf hatte sein Leben nicht verschwendet. Er war als junger Mann sehr gut gewesen und als alter Mann war er immer noch besser als die meisten anderen.
    Eschburg schrieb dem Fotografen einen langen Brief, er saß viele Stunden am Schreibtisch, aber am Ende zerriss er den Brief und warf ihn weg.

12
    Eschburg mietete ein zweistöckiges Fabrikgebäude im Hof eines Wohnhauses in der Linienstraße in Berlin-Mitte. Früher waren dort Regenschirme produziert worden, seit der Wiedervereinigung stand das Gebäude leer. Es hatte hohe Fenster, die Mauern waren aus rot-gelben Ziegeln und es war nicht teuer.
    Das Studio richtete er in der unteren Etage ein, in eine Hälfte der oberen Etage zog er mit seinen privaten Sachen. Als er die Bücherkartons in den ersten Stock trug, traf er zum ersten Mal seine Nachbarin aus der Wohnung gegenüber, sie grüßten sich über den Flur.
    Eschburg rief alle Redakteure und Architekten an, die er kannte, er sagte, er habe sich selbstständig gemacht. Nach und nach bekam er Aufträge, Bilder für Verkaufskataloge, kleine Reportagen über neue Gebäude, manchmal Aufnahmen für eines der städtischen Museen. Er hatte bei dem Fotografen kaum Geld ausgegeben, er brauchte nicht viel und er genoss seine Unabhängigkeit.
    In seiner Wohnung stand ein alter Sessel, jemand hatte ihn für den Sperrmüll auf die Straße gestellt. Das schwarze Polster war durchgesessen, aber er war immer noch bequem. Ansonsten hatte er nur zwei Stühle aus Eisen, einen groben Holztisch, Regale für die Bücher und ein Bett.
    Der Redakteur einer Kinozeitschrift bat Eschburg, eine bekannte Schauspielerin für einen Artikel zu fotografieren. Sie kam ungeschminkt, erhitzt vom Fahrradfahren, sie trug nur eine weiße Bluse. Er fotografierte sie, wie sie war. Er brauchte kaum eine Viertelstunde für das Bild.
    Eschburg hatte Glück. Der Schauspielerin gefiel das Foto, sie stellte es auf ihre Webseite. Sie empfahl Eschburg ihren Kollegen und Freunden. Nach kurzer Zeit fotografierte er Regisseure, Schauspieler, Sportler und Sänger. Dann kamen die Politiker, Manager und Unternehmer. Eschburg wurde bekannt, weil die Menschen bekannt waren, die er fotografierte. Drei Jahre später hatte er zwei Fotobände veröffentlicht. Er hatte Hunderte Schwarz-Weiß-Porträts gemacht, es gab Ausstellungen in verschiedenen Städten, seine Fotos waren auf Musik- CD s, auf Plakaten, in Zeitschriften und sie hingen in Restaurants. Er konnte hohe Preise für die Bilder verlangen. Eschburg war erst 25   Jahre alt.
    Seine Welt veränderte sich. Er brauchte jeden Tag eine Stunde, um E-Mails zu beantworten, und zwei Stunden, um seine Termine zu organisieren. Eine Agentur kümmerte sich um die Verwertung der Bildrechte, eine andere um seine Webseite. Er hatte einen Werbevertrag mit einem Kamerahersteller. Er reiste viel, oft wachte er in Hotels auf, ohne zu wissen, in welcher Stadt er war. Manchmal dachte er dann, es sei besser, liegen zu bleiben und darauf zu warten, bis alles vorbei ist.

13
    Vier Jahre nach seinem Umzug in die Linienstraße rief eine Frau in Eschburgs Studio an und fragte, ob er Zeit habe, sie sei in der Nähe und würde gerne vorbeikommen. Sie nannte den Namen eines französischen Energiekonzerns, den sie berate. Eine halbe Stunde später klingelte sie. Sie trug ein dünnes gelbes Kleid, ihre Haare hatte sie hochgesteckt.
    »Sagen Sie einfach Sofia, mein Nachname ist zu kompliziert.« Ihre Hand war warm. Auf ihrer Visitenkarte stand, sie sei Geschäftsführerin eines Unternehmens für Public Relations. Sie sagte, der Stromkonzern, den sie berate, wolle eine Werbekampagne mit dem Gesicht einer Frau machen. Sie fragte, ob er Lust habe, die Fotos dafür zu machen.
    »Wieso haben Sie mich ausgesucht?«, fragte Eschburg.
    Sie lächelte. »Nicht wegen Ihrer bekannten Porträts. Ich habe vor Jahren eines Ihrer Fotos bei Ihrem früheren Arbeitgeber gesehen. Sie selbst waren an diesem Tag nicht da. Es hing in Ihrem Büro. Ein kleines Schwarz-Weiß-Foto einer Frau.«
    Eschburg hatte die Bilder der nackten Frau, die er in dem

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