Tabu: Roman (German Edition)
Leben hatte es schon immer zwei Welten gegeben. Die Netzhaut seiner Augen nahm elektromagnetische Wellen zwischen 380 und 780 Nanometer wahr, sein Gehirn übersetzte sie in 200 Farbtöne, 500 Helligkeiten und 20 verschiedene Weißanteile. Er sah, was andere Menschen sehen. Aber in ihm waren die Farben anders. Sie hatten keine Namen, weil es nicht genug Worte für sie gab. Die Hände des Kindermädchens waren aus Cyan und Amber, seine Haare leuchteten für ihn violett mit einer Spur Ocker, die Haut des Vaters war eine blasse, grünblaue Fläche. Nur seine Mutter hatte keine Farbe. Lange Zeit glaubte Sebastian, sie bestehe aus Wasser, und erst wenn er in ihr Zimmer komme, nehme sie die Gestalt an, die alle kannten. Er bewunderte die Schnelligkeit, mit der ihr jedes Mal die Verwandlung gelang.
Als er lesen lernte, bekamen auch die Buchstaben Farben. Das »A« war so rot wie die Strickjacke der Lehrerin in der Dorfschule oder wie die Fahne der Schweiz, die er letzten Winter auf der Berghütte gesehen hatte, ein dickes, kräftiges, unmissverständliches Rot. Das »B« war viel leichter, es war gelb und roch wie die Rapsfelder auf dem Weg zur Schule. Es schwebte im Raum über dem hellgrünen »C«, höher und freundlicher als das dunkelgrüne »K«.
Da alle Dinge neben der sichtbaren noch die andere, die unsichtbare Farbe hatten, begann Sebastians Gehirn diese Welt zu ordnen. Nach und nach entstand eine Landkarte aus Farben, sie hatte Tausende Straßen, Plätze und Gassen, und jedes Jahr kam eine neue Ebene dazu. Er konnte sich in dieser Karte bewegen, er fand durch die Farben seine Erinnerungen. Die Karte wurde zu einem vollständigen Bild seiner Kindheit. Der Staub des Hauses hatte dort die Farbe der Zeit: ein dunkles, sanftes Grün.
Er redete nicht darüber, er glaubte noch, alle Menschen würden so sehen. Er ertrug es nur nicht, wenn seine Mutter ihm bunte Pullover anzog, dann wurde er wütend, zerriss sie oder vergrub sie im Garten. Schließlich konnte er durchsetzen, nur noch die dunkelblauen Bauernkittel aus der Gegend tragen zu dürfen, und bis er zehn Jahre alt war, blieben sie seine tägliche Kleidung. Manchmal zog er im Sommer eine Mütze auf, nur weil sie die richtige Farbe hatte. Das Au-pair-Mädchen ahnte, dass Sebastian anders war. Er bemerkte, wenn sie ein neues Parfum oder einen neuen Lippenstift trug. Manchmal rief sie ihren Freund in Lyon an, sie sprach dann französisch am Telefon, aber es schien ihr, als würde Sebastian die fremde Sprache verstehen, als reiche ihm dafür der Klang ihrer Stimme.
Mit zehn Jahren kam Sebastian ins Internat. Sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren schon dort gewesen und da die Familie kein Geld mehr hatte, bekam er ein Stipendium. Die Internatsleitung schickte einen Brief nach Hause. Es war genau festgelegt, welche Kleidung jeder Junge mitbringen durfte, wie viele Hosen, Pullover und Schlafanzüge. Überall musste die Köchin Nummern einnähen, damit die Wäscherei des Internats die Sachen der Kinder auseinanderhalten konnte. Die Köchin weinte, als sie den Koffer vom Speicher holte, und Sebastians Vater sagte ärgerlich, sie solle aufhören mit dem Getue, der Junge komme ja nicht ins Gefängnis. Sie weinte trotzdem, und obwohl der Brief das ausdrücklich verbot, legte sie ein Glas Marmelade und etwas Geld zwischen die frischen Hemden.
Eigentlich war sie keine Köchin, Personal gab es in dem Haus längst nicht mehr. Sie gehörte zur Familie, eine weit entfernte Tante, die in besseren Tagen Hausdame und Geliebte eines deutschen Konsuls in Tunesien gewesen war. Der Konsul hatte ihr nichts hinterlassen. Sie war froh, bei den Eschburgs unterzukommen. Manchmal wurde ihr ein Gehalt bezahlt, aber meistens blieb es bei freiem Wohnen und Essen.
Als Sebastian von seinem Vater ins Internat gebracht wurde, hätte er gerne die weißen Blüten des Hahnenfußes mitgenommen, die auf dem See schwammen, und die Bachstelzen und die Platanen vor dem Haus. Sein Hund lag in der Sonne, sein Fell war warm und Sebastian wusste nicht, was er zu ihm sagen sollte. Der Hund starb ein halbes Jahr später.
2
Während der Autofahrt ins Internat durfte Sebastian vorne sitzen, hinten in dem alten Wagen wurde ihm auf längeren Strecken schlecht. Er sah aus dem Fenster, er stellte sich vor, dass die Welt eben erst erbaut würde und dass der Vater nicht zu schnell fahren dürfe, sonst würde sie nicht rechtzeitig fertig.
Nach den Obstgärten am großen See, den der Vater das
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