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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Schwäbische Meer nannte, kamen sie an die Schweizer Grenze. Zwischen Deutschland und der Schweiz sei Niemandsland, sagte der Vater. Sebastian überlegte, wie die Menschen im Niemandsland aussehen, welche Sprache sie sprechen und ob sie überhaupt eine Sprache haben.
    Der Grenzbeamte wirkte würdevoll in seiner Uniform. Er kontrollierte Sebastians neuen Pass, er fragte den Vater sogar, ob er etwas zu verzollen habe. Sebastian starrte die Pistole des Beamten an, sie steckte in einem abgegriffenen Halfter, und er bedauerte es, dass der Mann sie nicht ziehen musste.
    Auf der anderen Seite der Grenze wechselte der Vater Geld und kaufte Schokolade an einem Kiosk. Er sagte, man müsse das immer tun, wenn man in die Schweiz fahre. Jeder Riegel war einzeln verpackt, das Stanniolpapier war mit winzigen Fotos beklebt: der Rheinfall bei Schaffhausen, das Matterhorn, Kühe und Milchkannen vor einer Scheune, der Zürichsee.
    Sie fuhren höher in die Berge, es wurde kühler, sie kurbelten die Scheiben hoch. Die Schweiz sei eines der größten Länder der Erde, sagte der Vater, man müsste nur die Berge flach ziehen, dann wäre das Land so groß wie Argentinien. Die Straßen wurden enger, sie sahen Bauernhöfe, Kirchtürme aus Feldstein, Flüsse, einen Bergsee.
    Als sie durch ein Dorf kamen, das besonders ordentlich aussah, sagte der Vater, Nietzsche habe hier gewohnt. Er zeigte auf ein zweistöckiges Haus, Geranien standen auf den Fensterbänken. Sebastian wusste nicht, wer dieser Nietzsche war, aber der Vater hatte es so traurig gesagt, dass er sich den Namen merkte.
    Sie fuhren zwischen den Felsen noch etwa dreißig Kilometer weiter und schließlich parkten sie auf dem Marktplatz einer kleinen Stadt. Weil sie etwas zu früh angekommen waren, gingen sie noch durch die Gassen. Es gab zwei- und dreistöckige Bürgerhäuser mit winzigen Fenstern, Torbögen und dicken Mauern gegen die harten Winter. Von hier aus konnten sie die Gebäude des Internats sehen, eine barocke Klosteranlage. Arkaden umschlossen einen Marienbrunnen, dahinter standen die beiden Türme der gewaltigen Stiftskirche.
    Der Internatsleiter empfing sie, er trug die braune Kutte der Benediktiner. Sebastian saß neben seinem Vater auf dem Sofa. Eine Madonna stand in einem Wandauslass hinter Glas. Sie hatte einen winzigen Mund und trübe Augen, das Kind auf ihrem Arm sah krank aus. Sebastian war unruhig. In seiner Hosentasche war eine Vogelpfeife, ein sehr glatter Stein, den er letztes Jahr am Strand gefunden hatte, und der Rest einer Orangenschale. Während die Männer Dinge besprachen, die Sebastian nicht verstand, zerriss er mit Daumen und Zeigefinger die Orangenschale in seiner Tasche in immer kleinere Stücke. Als die Erwachsenen endlich fertig waren und Sebastian aufstehen durfte, verabschiedete sich der Vater von dem Pater. Auch Sebastian wollte dem fremden Mann die Hand geben, aber der sagte nur: »Nein, nein, du bleibst jetzt hier.«
    Die winzigen Stücke der Orangenschale waren aus Sebastians Tasche gefallen, sie hatten sich auf dem Sofa verteilt und der Stoff hatte dunkle Flecken. Der Vater entschuldigte sich, aber der Pater lachte. Es sei nicht schlimm, sagte er. Sebastian wusste, dass der fremde Mann log.

3
    Das Leben im Kloster war seit Jahrhunderten auf das Lesen und Schreiben ausgerichtet. Die Stiftsbibliothek war ein hoher Saal mit hellem Eichenboden, hier standen über 1400 Handschriften und über 200   000 gedruckte Bücher, die meisten in Leder gebunden. Die Mönche hatten im 11.   Jahrhundert eine Schreibschule gegründet, im 17.   Jahrhundert kam eine Druckerei dazu. Für die Schüler gab es eine zweite Bibliothek, einen Raum mit dunklen Holztischen und Messingleuchten. Unter den Kindern gab es Gerüchte über geheime Räume im Keller des Klosters mit verbotenen Büchern: Aufzeichnungen über Folter, über Hexenprozesse, Anleitungen zur Zauberei. Die Patres förderten das Lesen nicht, sie wussten, dass es sich für manche Kinder von alleine ergeben und für die anderen uninteressant bleiben würde.
    Sebastian begann in der Abgeschiedenheit des Klosters zu lesen. Nach einiger Zeit störten ihn die Regeln im Internat nicht mehr, er gewöhnte sich an Früh- und Abendmessen, an den Unterricht, den Sport, die Lernzeiten. Es war dieser immer gleiche Rhythmus der klösterlichen Tage, der ihm die Ruhe gab, in den Büchern zu leben.
    In den ersten Wochen vermisste er das Haus am See. Zwischen den Ferien durften die Kinder nicht nach Hause fahren,

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