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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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gelegt, die Tiere waren tot und schmutzig. Sebastian ging nicht mehr mit auf die Treibjagden. Aber wenn sie alleine waren und der Vater kaum sprach, gehörte ihnen der Wald und das Wild und es gab nichts Schmutziges und nichts Falsches.
    Sie stiegen auf den Hochsitz und warteten, bis der Frühnebel sich aufgelöst hatte. Als der Rehbock auf das Feld trat, gab der Vater Sebastian das Fernglas. Es war ein kapitaler Sechserbock, er war groß und stolz und er war sehr schön. »Wir haben noch Zeit«, flüsterte der Vater. Sebastian nickte. Es war Anfang August, die Schonzeit würde erst Mitte Oktober beginnen. Er überlegte, warum der Vater überhaupt ein Gewehr dabeihatte, wenn er es nicht benutzen wollte. Aber dann dachte er, dass er später auch immer sein Gewehr mitnehmen würde.
    Der Vater zog eine Zigarre aus dem Etui, das Leder war fleckig und alt, so wie alles alt war, was der Vater besaß. Von hier oben konnten sie weit ins Tal sehen, bis zu dem Kirchturm des Dorfes und an klaren Tagen noch weiter, bis zu den Alpen. Sebastian würde sich später an jede Einzelheit erinnern, an den Rauch der Zigarren, an den Geruch von Harz und von nasser Wolle und an den Wind in den Bäumen.
    Sie wechselten sich mit dem Fernglas ab, es war so schwer, dass Sebastian sich mit den Ellbogen auf dem Querbalken abstützen musste. Lange beobachteten sie die Rehe.
    Dann legte der Vater kurz an und schoss. Sie kletterten vom Hochsitz, Sebastian rannte über das Feld. Die Vorderläufe des Rehs sahen aus, als würde es noch laufen, sie waren abgeknickt und klein, die Augen standen offen, halbrund gewölbt und trüb, die rote Zunge war seltsam verdreht. Sebastian kannte die alte Sprache der Jäger, sie sagten Lichter anstelle von Augen und Äser anstelle von Maul. Der Vater hatte gesagt, Jäger seien abergläubisch und man dürfe im Wald keine normalen Worte benutzen, das Wild würde sonst gewarnt. Aber jetzt war das Reh tot und die Worte spielten keine Rolle mehr.
    Der Vater beugte sich über das Tier, spreizte dessen Hinterläufe und kniete sich darauf. Er schnitt die Bauchdecke vom Darmausgang bis zur Kehle auf. Blut und Gedärme quollen hervor. Der Vater zog Pansen, Herz, Milz und Lunge aus dem Körper und legte sie neben sich ins Gras.
    Sebastian fühlte sich wie damals, als er auf einer Wanderung in eine Schlucht geschaut hatte, er hatte sich nicht mehr lösen können. Er hatte in die Tiefe gestarrt, immer weiter, wehrlos und ohne Willen, bis der Vater ihn zurückgerissen hatte. Und jetzt war es dieser Schnitt, der Schnitt mit dem Messer seines Vaters. Er zog Sebastian an und stieß ihn gleichzeitig ab. Er konnte sich nicht mehr bewegen, er sah das Weiße in dem Körper des Rehs, die Muskelfasern und die Knochen. Endlich war der Vater fertig und legte das Reh über seine Schultern. Sebastian trug den Rucksack, er ging hinter dem Vater zurück zum Wagen. Es würde ein heißer Tag werden, die Wiesen begannen zu dampfen, das Licht wurde hart und es war besser, im Schatten der Bäume zu bleiben.
    Zu Hause saß Sebastians Mutter draußen an dem Eisentisch unter den Kastanien und frühstückte, ihre beiden Hunde dösten auf dem Rasen. Es war Donnerstag, sie würde heute noch auf ein Reitturnier fahren, Sebastian hatte den Pferdetransporter gesehen. Vor ein paar Jahren hatte die Mutter den Stall renovieren lassen, jetzt standen ihre zwei Dressurpferde dort. Sebastian küsste die Mutter auf beide Wangen, dann rannte er nach oben in sein Zimmer und holte ihr Geschenk aus dem Koffer. Im Werkraum des Internats hatte er einen Nussknacker gebastelt, er hatte weiße Zähne, einen roten Bart und einen schwarzen Hut mit einer Fasanenfeder aus Holz. Sebastian hatte lange an ihm gearbeitet, die Feder hatte er braun-grün angemalt. Aber jetzt kam ihm das Geschenk dumm vor. Er sah zu Boden, als er es ihr gab. An den Händen hatte er noch das Harz vom Hochsitz und nun klebte es an dem Nussknacker, weil er nicht aufgepasst hatte. Die Mutter bedankte sich. Sie öffnete zweimal den Mund des Nussknackers. Dann las sie weiter die Ausschreibungen in der »Reiter Revue«. Auf dem Tisch lagen die Meldescheine für ihre Turniere. Sebastian erzählte die Neuigkeiten aus dem Internat. Manchmal stellte sie eine Frage, ohne von den Papieren aufzusehen. Nach einiger Zeit sagte sie, dass sie nun losmüsse. Sie faltete ihre Serviette zusammen, sorgfältig, bis die Enden exakt aufeinanderlagen. Sie küsste ihn auf die Stirn. Die Hunde sprangen auf und trotteten neben ihr

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